Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

eine Reihe von verfehlten Versuchen enthält, weil die Idee des Drama's
auf einem Mißverständnis; beruht. Das Drama sei unmöglich, einmal wegen der
Form unsrer Sprache, -- auf diesen Puukt kommen wir später, -- sodann
wegen seines Inhalts. Das moderne Drama ist theils hervorgegangen aus einer
Umarbeitung des Romans, theils aus einer falschen Nachahmung des griechischen
Theaters. Das letztere hat blos zu künstlichen Nechenexempeln geführt, bis
endlich'die Aufführung des Sophokles in Berlin beweisen mußte, daß wir kein
Drama im alten Sinn haben können. Die Nachbildung des Romans war zu
Shakspeare's Zeit nur dadurch möglich, daß die Phantasie den Wechsel des
Namens ergänzte; aber eben deswegen war auch das Shakspear'sche Drama kein
Kunstwerk, deun ein Kunstwerk ist nur denkbar durch unmittelbare Wirkung auf
die Sinne. Außerdem schadete das Zusammendrängen der Handlung, das
freilich die Einheit des Interesses erleichterte, der poetischen Wahrheit, denn das
Drama mußte voraussetzen, worauf der Romandichter seine ganze Darstellungs-
knnst wenden'konnte, nämlich die Exposition der gemeingiltigen Anschauungen,
denen man den Maßstab für die Beurtheilung der individuelle" Handlungsweise
entnehmen, und aus denen mau eben diese Handlungsweise erklären mußte. Im
historischen Roman suchte man sich umständlich den Menschen begreiflich zu ma¬
chen, den man vom rein menschlichen Standpunkte ans nicht verstand. Man
konnte ihn dnrch genaue Motivinnig auf das mindeste Maß individueller Freiheit
zurückführen. Wenn aber schon der Roman sich nnr dadurch zu eiuer Art von
Kunstwerk erheben konnte, daß er der historischen Wahrheit Gewalt anthat,
an wie viel mehr mußte das im historischen Drama der Fall sein, welches eine
so gründliche Motivirung nicht zuließ! -- Ist also das historische Drama un¬
möglich, weil es unverständliche Motive voraussetzt, so ist das sogenannte bürger¬
liche Drama darum zu einer künstlerischen Gestaltung ungeeignet, weil die socialen
Zustände nichts Anderes sind, als die abgeschwächten, völlig interesselosen histo¬
rischen Niederschläge. Der strebsame Dichter zieht sich entweder mit völliger Be¬
seitigung des wirklichen Theaters in das abstracte Literatnrdrama zurück, welches
etwas uoch Unbefriedigenderes ist, als jene beiden unvollkommenen Formen, oder
er gebraucht auch die Kunst zu einem Werkzeug für das, was seine Seele eigent¬
lich allein beschäftigt, er kämpft nämlich unmittelbar gegen den Staat, und aus
dem Dichter wird ein Journalist. Ganz mit Recht hat Napoleon gesagt,
es gebe jetzt kein Schicksal mehr, die Politik sei an seine Stelle getreten. Die
Poesie kann also erst dann wieder Raum finde", wenn wir wieder ein Schicksal
haben; das kann aber nnr dann geschehen, wenn -- man erschrecke nicht --
es keine Politik mehr geben wird, d. h. wenn die Staaten aufhören.

Hier siud wir endlich ans den Punkt gekommen, den Wagner selbst für den
springenden Punkt seiner ganzen Entwickelung hält. Er giebt uns eine sinnige
Interpretation von dem Mythus des Oedipus, in welchem sich handgreiflich aus-


eine Reihe von verfehlten Versuchen enthält, weil die Idee des Drama's
auf einem Mißverständnis; beruht. Das Drama sei unmöglich, einmal wegen der
Form unsrer Sprache, — auf diesen Puukt kommen wir später, — sodann
wegen seines Inhalts. Das moderne Drama ist theils hervorgegangen aus einer
Umarbeitung des Romans, theils aus einer falschen Nachahmung des griechischen
Theaters. Das letztere hat blos zu künstlichen Nechenexempeln geführt, bis
endlich'die Aufführung des Sophokles in Berlin beweisen mußte, daß wir kein
Drama im alten Sinn haben können. Die Nachbildung des Romans war zu
Shakspeare's Zeit nur dadurch möglich, daß die Phantasie den Wechsel des
Namens ergänzte; aber eben deswegen war auch das Shakspear'sche Drama kein
Kunstwerk, deun ein Kunstwerk ist nur denkbar durch unmittelbare Wirkung auf
die Sinne. Außerdem schadete das Zusammendrängen der Handlung, das
freilich die Einheit des Interesses erleichterte, der poetischen Wahrheit, denn das
Drama mußte voraussetzen, worauf der Romandichter seine ganze Darstellungs-
knnst wenden'konnte, nämlich die Exposition der gemeingiltigen Anschauungen,
denen man den Maßstab für die Beurtheilung der individuelle» Handlungsweise
entnehmen, und aus denen mau eben diese Handlungsweise erklären mußte. Im
historischen Roman suchte man sich umständlich den Menschen begreiflich zu ma¬
chen, den man vom rein menschlichen Standpunkte ans nicht verstand. Man
konnte ihn dnrch genaue Motivinnig auf das mindeste Maß individueller Freiheit
zurückführen. Wenn aber schon der Roman sich nnr dadurch zu eiuer Art von
Kunstwerk erheben konnte, daß er der historischen Wahrheit Gewalt anthat,
an wie viel mehr mußte das im historischen Drama der Fall sein, welches eine
so gründliche Motivirung nicht zuließ! — Ist also das historische Drama un¬
möglich, weil es unverständliche Motive voraussetzt, so ist das sogenannte bürger¬
liche Drama darum zu einer künstlerischen Gestaltung ungeeignet, weil die socialen
Zustände nichts Anderes sind, als die abgeschwächten, völlig interesselosen histo¬
rischen Niederschläge. Der strebsame Dichter zieht sich entweder mit völliger Be¬
seitigung des wirklichen Theaters in das abstracte Literatnrdrama zurück, welches
etwas uoch Unbefriedigenderes ist, als jene beiden unvollkommenen Formen, oder
er gebraucht auch die Kunst zu einem Werkzeug für das, was seine Seele eigent¬
lich allein beschäftigt, er kämpft nämlich unmittelbar gegen den Staat, und aus
dem Dichter wird ein Journalist. Ganz mit Recht hat Napoleon gesagt,
es gebe jetzt kein Schicksal mehr, die Politik sei an seine Stelle getreten. Die
Poesie kann also erst dann wieder Raum finde», wenn wir wieder ein Schicksal
haben; das kann aber nnr dann geschehen, wenn — man erschrecke nicht —
es keine Politik mehr geben wird, d. h. wenn die Staaten aufhören.

Hier siud wir endlich ans den Punkt gekommen, den Wagner selbst für den
springenden Punkt seiner ganzen Entwickelung hält. Er giebt uns eine sinnige
Interpretation von dem Mythus des Oedipus, in welchem sich handgreiflich aus-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0100" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/93465"/>
          <p xml:id="ID_301" prev="#ID_300"> eine Reihe von verfehlten Versuchen enthält, weil die Idee des Drama's<lb/>
auf einem Mißverständnis; beruht.  Das Drama sei unmöglich, einmal wegen der<lb/>
Form unsrer Sprache, &#x2014; auf diesen Puukt kommen wir später, &#x2014; sodann<lb/>
wegen seines Inhalts.  Das moderne Drama ist theils hervorgegangen aus einer<lb/>
Umarbeitung des Romans, theils aus einer falschen Nachahmung des griechischen<lb/>
Theaters.  Das letztere hat blos zu künstlichen Nechenexempeln geführt, bis<lb/>
endlich'die Aufführung des Sophokles in Berlin beweisen mußte, daß wir kein<lb/>
Drama im alten Sinn haben können.  Die Nachbildung des Romans war zu<lb/>
Shakspeare's Zeit nur dadurch möglich, daß die Phantasie den Wechsel des<lb/>
Namens ergänzte; aber eben deswegen war auch das Shakspear'sche Drama kein<lb/>
Kunstwerk, deun ein Kunstwerk ist nur denkbar durch unmittelbare Wirkung auf<lb/>
die  Sinne.  Außerdem schadete das Zusammendrängen der Handlung, das<lb/>
freilich die Einheit des Interesses erleichterte, der poetischen Wahrheit, denn das<lb/>
Drama mußte voraussetzen, worauf der Romandichter seine ganze Darstellungs-<lb/>
knnst wenden'konnte, nämlich die Exposition der gemeingiltigen Anschauungen,<lb/>
denen man den Maßstab für die Beurtheilung der individuelle» Handlungsweise<lb/>
entnehmen, und aus denen mau eben diese Handlungsweise erklären mußte. Im<lb/>
historischen Roman suchte man sich umständlich den Menschen begreiflich zu ma¬<lb/>
chen, den man vom rein menschlichen Standpunkte ans nicht verstand. Man<lb/>
konnte ihn dnrch genaue Motivinnig auf das mindeste Maß individueller Freiheit<lb/>
zurückführen.  Wenn aber schon der Roman sich nnr dadurch zu eiuer Art von<lb/>
Kunstwerk erheben konnte, daß er der historischen Wahrheit Gewalt anthat,<lb/>
an wie viel mehr mußte das im historischen Drama der Fall sein, welches eine<lb/>
so gründliche Motivirung nicht zuließ! &#x2014; Ist also das historische Drama un¬<lb/>
möglich, weil es unverständliche Motive voraussetzt, so ist das sogenannte bürger¬<lb/>
liche Drama darum zu einer künstlerischen Gestaltung ungeeignet, weil die socialen<lb/>
Zustände nichts Anderes sind, als die abgeschwächten, völlig interesselosen histo¬<lb/>
rischen Niederschläge.  Der strebsame Dichter zieht sich entweder mit völliger Be¬<lb/>
seitigung des wirklichen Theaters in das abstracte Literatnrdrama zurück, welches<lb/>
etwas uoch Unbefriedigenderes ist, als jene beiden unvollkommenen Formen, oder<lb/>
er gebraucht auch die Kunst zu einem Werkzeug für das, was seine Seele eigent¬<lb/>
lich allein beschäftigt, er kämpft nämlich unmittelbar gegen den Staat, und aus<lb/>
dem Dichter wird ein Journalist.  Ganz mit Recht hat Napoleon gesagt,<lb/>
es gebe jetzt kein Schicksal mehr, die Politik sei an seine Stelle getreten. Die<lb/>
Poesie kann also erst dann wieder Raum finde», wenn wir wieder ein Schicksal<lb/>
haben; das kann aber nnr dann geschehen, wenn &#x2014; man erschrecke nicht &#x2014;<lb/>
es keine Politik mehr geben wird, d. h. wenn die Staaten aufhören.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_302" next="#ID_303"> Hier siud wir endlich ans den Punkt gekommen, den Wagner selbst für den<lb/>
springenden Punkt seiner ganzen Entwickelung hält. Er giebt uns eine sinnige<lb/>
Interpretation von dem Mythus des Oedipus, in welchem sich handgreiflich aus-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0100] eine Reihe von verfehlten Versuchen enthält, weil die Idee des Drama's auf einem Mißverständnis; beruht. Das Drama sei unmöglich, einmal wegen der Form unsrer Sprache, — auf diesen Puukt kommen wir später, — sodann wegen seines Inhalts. Das moderne Drama ist theils hervorgegangen aus einer Umarbeitung des Romans, theils aus einer falschen Nachahmung des griechischen Theaters. Das letztere hat blos zu künstlichen Nechenexempeln geführt, bis endlich'die Aufführung des Sophokles in Berlin beweisen mußte, daß wir kein Drama im alten Sinn haben können. Die Nachbildung des Romans war zu Shakspeare's Zeit nur dadurch möglich, daß die Phantasie den Wechsel des Namens ergänzte; aber eben deswegen war auch das Shakspear'sche Drama kein Kunstwerk, deun ein Kunstwerk ist nur denkbar durch unmittelbare Wirkung auf die Sinne. Außerdem schadete das Zusammendrängen der Handlung, das freilich die Einheit des Interesses erleichterte, der poetischen Wahrheit, denn das Drama mußte voraussetzen, worauf der Romandichter seine ganze Darstellungs- knnst wenden'konnte, nämlich die Exposition der gemeingiltigen Anschauungen, denen man den Maßstab für die Beurtheilung der individuelle» Handlungsweise entnehmen, und aus denen mau eben diese Handlungsweise erklären mußte. Im historischen Roman suchte man sich umständlich den Menschen begreiflich zu ma¬ chen, den man vom rein menschlichen Standpunkte ans nicht verstand. Man konnte ihn dnrch genaue Motivinnig auf das mindeste Maß individueller Freiheit zurückführen. Wenn aber schon der Roman sich nnr dadurch zu eiuer Art von Kunstwerk erheben konnte, daß er der historischen Wahrheit Gewalt anthat, an wie viel mehr mußte das im historischen Drama der Fall sein, welches eine so gründliche Motivirung nicht zuließ! — Ist also das historische Drama un¬ möglich, weil es unverständliche Motive voraussetzt, so ist das sogenannte bürger¬ liche Drama darum zu einer künstlerischen Gestaltung ungeeignet, weil die socialen Zustände nichts Anderes sind, als die abgeschwächten, völlig interesselosen histo¬ rischen Niederschläge. Der strebsame Dichter zieht sich entweder mit völliger Be¬ seitigung des wirklichen Theaters in das abstracte Literatnrdrama zurück, welches etwas uoch Unbefriedigenderes ist, als jene beiden unvollkommenen Formen, oder er gebraucht auch die Kunst zu einem Werkzeug für das, was seine Seele eigent¬ lich allein beschäftigt, er kämpft nämlich unmittelbar gegen den Staat, und aus dem Dichter wird ein Journalist. Ganz mit Recht hat Napoleon gesagt, es gebe jetzt kein Schicksal mehr, die Politik sei an seine Stelle getreten. Die Poesie kann also erst dann wieder Raum finde», wenn wir wieder ein Schicksal haben; das kann aber nnr dann geschehen, wenn — man erschrecke nicht — es keine Politik mehr geben wird, d. h. wenn die Staaten aufhören. Hier siud wir endlich ans den Punkt gekommen, den Wagner selbst für den springenden Punkt seiner ganzen Entwickelung hält. Er giebt uns eine sinnige Interpretation von dem Mythus des Oedipus, in welchem sich handgreiflich aus-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/100
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/100>, abgerufen am 22.07.2024.