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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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in Smichow sind auch nit mehr so gefährlich." Er zog das blallkattunene Schnupf-
tuch ans der Tasche, rastete einmal, wischte sich den Schweiß von der Stirn und
lächelte. Warum? Im Thorweg einer großen Brauerei stand ein junger Mann
in Hemdärmeln, mit grüner Sammetkappe auf dem linken Ohr, die Beine aus
einander gespreizt, die Hände auf dem Rücken und gähnte. Der junge Brauherr
kannte Nathan nicht mehr, aber Nathan hatte ein gutes Gedächtniß. Vor mehr
als zwanzig Jahren setzte sich der Hausirer einmal ans den Eckstein im Thorwege
und schlief ein, so tief und fest, daß der muthwillige kleine Wirthssohn sich, zum
Gelächter der Zecher in der Vorhalle, den Spaß machte, dem Juden eine Hälfte
seines zweispitzigen grauen Bartes abzusengen. Es war das einzige Mal in
seinem Leben, wo er sich dnrch einen sehr ernsthaften und bösen Fluch zu rächen
das Herz hatte, denn sein Bart war ihm theuer, und die Verstümmlung machte
ihn zum allgemeinen Gespött ans dem ganzen langen Weg bis nach Hanse. Allein er
bereute doch bald, was er gethan, und betete zu Gott, daß er den Fluch igno-
riren möge. So war es auch geschehen, denn der junge Mann im Thorwege
sah frisch und blühend ans und seine Oberlippe zierte sogar ein blondes Bärtchen.
Darum lächelte Nathan und ging weiter.

Mit solchen und andern Erinnerungen verbrachte er mehrere Stunden
fruchtloser Wanderung. Er ging und rief, er rief und ging und hatte noch keine
Nähnadel verkauft. Sein Schritt wurde wankend und Traurigkeit sammelte sich
um sein Gemüth. In den engen Straßen zwischen den hohen Häusern ver¬
breitete" sich schon Dämmerschatten; er kam in Gefahr, dnrch längeres Zandern
den Sabbath zu entweihen und machte sich ängstlich an den Heimweg. Me¬
chanisch aber stößt er, um die Ecke biegend, den Ruf "Handeln! Handeln!" aus,
und siehe, diesmal findet er ein Echo, eine Hand winkt ihm aus dem dritten
Stock eines hohen Gebändes, und eine Frauenstimme fordert ihn ans, zu kommen.
Na, denkt er, Eins ist besser wie Keins, und indem er sich die steilen Treppen müh¬
selig hinanschleppt, berechnet er im Geist, was er mit den Paar Groschen, die in
seine Tasche fallen werden, anfangen soll. Wie er endlich oben ist und die
Thüre des Vorsaals öffnet, gewahrt er eine hübsche, junge Fran, die am Fenster¬
sims lehnt und einen ungcberdigen Knaben an der Hand hält. "Da ist er!"
sagt sie, zu dem Jungen gewendet, und, indem sie mit dem Finger ans den
Alten dentet, fährt sie mit drohender Stimme fort: "Siehst Dn den abscheulichen
Juden? Wenn Du nicht Und gibst, steckt er Dich gleich in den Sack und
frißt Dich zu Haus lebendig auf. -- So. Jetzt ist's gut. Ihr könnt wieder
gehn, Jud'!"--

Seit jenem Abend hat Vetter Nathan das Ghetto nie mehr verlassen.

Wir aber treten aus dem Kreise der Verstoßenen zurück in das Leben
unseres Geschlechts.




in Smichow sind auch nit mehr so gefährlich." Er zog das blallkattunene Schnupf-
tuch ans der Tasche, rastete einmal, wischte sich den Schweiß von der Stirn und
lächelte. Warum? Im Thorweg einer großen Brauerei stand ein junger Mann
in Hemdärmeln, mit grüner Sammetkappe auf dem linken Ohr, die Beine aus
einander gespreizt, die Hände auf dem Rücken und gähnte. Der junge Brauherr
kannte Nathan nicht mehr, aber Nathan hatte ein gutes Gedächtniß. Vor mehr
als zwanzig Jahren setzte sich der Hausirer einmal ans den Eckstein im Thorwege
und schlief ein, so tief und fest, daß der muthwillige kleine Wirthssohn sich, zum
Gelächter der Zecher in der Vorhalle, den Spaß machte, dem Juden eine Hälfte
seines zweispitzigen grauen Bartes abzusengen. Es war das einzige Mal in
seinem Leben, wo er sich dnrch einen sehr ernsthaften und bösen Fluch zu rächen
das Herz hatte, denn sein Bart war ihm theuer, und die Verstümmlung machte
ihn zum allgemeinen Gespött ans dem ganzen langen Weg bis nach Hanse. Allein er
bereute doch bald, was er gethan, und betete zu Gott, daß er den Fluch igno-
riren möge. So war es auch geschehen, denn der junge Mann im Thorwege
sah frisch und blühend ans und seine Oberlippe zierte sogar ein blondes Bärtchen.
Darum lächelte Nathan und ging weiter.

Mit solchen und andern Erinnerungen verbrachte er mehrere Stunden
fruchtloser Wanderung. Er ging und rief, er rief und ging und hatte noch keine
Nähnadel verkauft. Sein Schritt wurde wankend und Traurigkeit sammelte sich
um sein Gemüth. In den engen Straßen zwischen den hohen Häusern ver¬
breitete« sich schon Dämmerschatten; er kam in Gefahr, dnrch längeres Zandern
den Sabbath zu entweihen und machte sich ängstlich an den Heimweg. Me¬
chanisch aber stößt er, um die Ecke biegend, den Ruf „Handeln! Handeln!" aus,
und siehe, diesmal findet er ein Echo, eine Hand winkt ihm aus dem dritten
Stock eines hohen Gebändes, und eine Frauenstimme fordert ihn ans, zu kommen.
Na, denkt er, Eins ist besser wie Keins, und indem er sich die steilen Treppen müh¬
selig hinanschleppt, berechnet er im Geist, was er mit den Paar Groschen, die in
seine Tasche fallen werden, anfangen soll. Wie er endlich oben ist und die
Thüre des Vorsaals öffnet, gewahrt er eine hübsche, junge Fran, die am Fenster¬
sims lehnt und einen ungcberdigen Knaben an der Hand hält. „Da ist er!"
sagt sie, zu dem Jungen gewendet, und, indem sie mit dem Finger ans den
Alten dentet, fährt sie mit drohender Stimme fort: „Siehst Dn den abscheulichen
Juden? Wenn Du nicht Und gibst, steckt er Dich gleich in den Sack und
frißt Dich zu Haus lebendig auf. — So. Jetzt ist's gut. Ihr könnt wieder
gehn, Jud'!"--

Seit jenem Abend hat Vetter Nathan das Ghetto nie mehr verlassen.

Wir aber treten aus dem Kreise der Verstoßenen zurück in das Leben
unseres Geschlechts.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/75>, abgerufen am 24.07.2024.