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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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schnörkelhaft ausgehauenen Häupter aus dem Nasen, und hie und da besagen ein
Paar in's Gestein gegrabene Hände, daß Einer aus dem Stamme Aron's unten
modert. Innerhalb der Friedhofmauern besteht jeder Fußbreit Erde aus Todteu¬
staub und verwesten Gebein; aber nie ist ein Todter in seiner Ruhe gestört
morden, um einem Neugestorbenen Platz zu machen. Ungeschmälert bleibt jedem
sein enges Haus, denn die Sparsamkeit, welche mit dem Erdreich zu Gunsten
der Lebenden geizt, dünkt deu orthodoxen Juden ein Gräuel, und sie erwerben,
wo die Hindernisse nicht unübersteiglich sind, ihren Vorfahren mit schweren Opfern
ein ewiges und unveräußerliches Besitzthum. Seit mehr als Menschengedenken ist
dieser Ghettokirchhof voll und die Todten werden in einer Stätte außerhalb der
Stadt beerdigt; ringsum gipfeln sich die vollgepfropften, vielfenstrigen Stock¬
werke ärmlicher Häuser in die Höhe, aber keines fühlt eine Sehnsucht, seinen
Raum auf Kosten der Ahnen zu erweitern, deren Namen doch meist verschollen,
deren Geschlechter oft längst ausgestorben sind.

Auch diese Pietät wird verschwinden wie die Sagen, deren Quell seit dem
Anfang dieses Jahrhunderts versiegt ist. -- Und doch verweilt noch hier, nehmt
Platz ans einem Grabstein und stellt eure Füße auf diesen andern, der bis zur
Höhe eines Schemels eingesunken ist. Es plaudert sich nirgend so ungestört
als hier.

Hört ein kleines Abenteuer des Vetter Nathan. Wenige Jahre vor seinem
Tode noch pflegte er, allerhand kleinen Waarenkram, Fischbein, Nähzeug und
Seidentüchleiu seilbietend, sich durch die Straßen vou Prag zu schleppen und mit
schwacher Stimme dann und wann den bekannten Ruf der Handeljuden ertönen
zu lassen. Es war ein Freitag, die Sommerhitze drückend, und der Hausirer
matt und erschöpft vom Wandern. Hohes Alter hatte seinen Rücken gekrümmt, und
seine Glieder zitterten, aber keine Beredsamkeit seiner Freunde vermochte ihn sich Ruhe
zu gönnen und zu Hause zu bleiben. Ich bin's gewohut, sagte er, und das Gehen ist
mir gesund. Der wirkliche Grund dieser Hartnäckigkeit war seine Scheu, Unterstü¬
tzungen anzunehmen; er schämte sich vor seinen Enkeln und seiner Frau in der Grube,
ein "Gast", ein Bettler zu heißen, er, der einst so wohlhabend gewesen, daß er
jeden Sabbath selber drei "Gäste" bewirthete. Wer den alten Mann hinkeuchen
sah, staubbedeckt, das hagere Antlitz häßlich verzogen von Müh und Anstrengung,
die knochige Hand, auf der idie blauen Adern emporquollen, krampfhaft auf die
Schnur gepreßt, die seinen Kram zusammenhielt, -- der dachte gewiß, daß der
Schachergeist bes Hausirers stärker sein müsse als seine Altersschwäche. Nathan's
Gedanken beschäftigten sich aber wenig mit dem Kram auf seinem Rücken, sondern
er stellte Vergleichungen an zwischen Sonst und Jetzt und freute sich über die
vielen Veränderungen im Prager Leben. Der Judenhaß hatte merklich abgenommen.
"In der Jesuitengasse," dachte er, "bin ich doch früher jedesmal ans dem ersten
Stock begossen worden, was mir jetzt schon lange nit passirt ist, und die Kinder


schnörkelhaft ausgehauenen Häupter aus dem Nasen, und hie und da besagen ein
Paar in's Gestein gegrabene Hände, daß Einer aus dem Stamme Aron's unten
modert. Innerhalb der Friedhofmauern besteht jeder Fußbreit Erde aus Todteu¬
staub und verwesten Gebein; aber nie ist ein Todter in seiner Ruhe gestört
morden, um einem Neugestorbenen Platz zu machen. Ungeschmälert bleibt jedem
sein enges Haus, denn die Sparsamkeit, welche mit dem Erdreich zu Gunsten
der Lebenden geizt, dünkt deu orthodoxen Juden ein Gräuel, und sie erwerben,
wo die Hindernisse nicht unübersteiglich sind, ihren Vorfahren mit schweren Opfern
ein ewiges und unveräußerliches Besitzthum. Seit mehr als Menschengedenken ist
dieser Ghettokirchhof voll und die Todten werden in einer Stätte außerhalb der
Stadt beerdigt; ringsum gipfeln sich die vollgepfropften, vielfenstrigen Stock¬
werke ärmlicher Häuser in die Höhe, aber keines fühlt eine Sehnsucht, seinen
Raum auf Kosten der Ahnen zu erweitern, deren Namen doch meist verschollen,
deren Geschlechter oft längst ausgestorben sind.

Auch diese Pietät wird verschwinden wie die Sagen, deren Quell seit dem
Anfang dieses Jahrhunderts versiegt ist. — Und doch verweilt noch hier, nehmt
Platz ans einem Grabstein und stellt eure Füße auf diesen andern, der bis zur
Höhe eines Schemels eingesunken ist. Es plaudert sich nirgend so ungestört
als hier.

Hört ein kleines Abenteuer des Vetter Nathan. Wenige Jahre vor seinem
Tode noch pflegte er, allerhand kleinen Waarenkram, Fischbein, Nähzeug und
Seidentüchleiu seilbietend, sich durch die Straßen vou Prag zu schleppen und mit
schwacher Stimme dann und wann den bekannten Ruf der Handeljuden ertönen
zu lassen. Es war ein Freitag, die Sommerhitze drückend, und der Hausirer
matt und erschöpft vom Wandern. Hohes Alter hatte seinen Rücken gekrümmt, und
seine Glieder zitterten, aber keine Beredsamkeit seiner Freunde vermochte ihn sich Ruhe
zu gönnen und zu Hause zu bleiben. Ich bin's gewohut, sagte er, und das Gehen ist
mir gesund. Der wirkliche Grund dieser Hartnäckigkeit war seine Scheu, Unterstü¬
tzungen anzunehmen; er schämte sich vor seinen Enkeln und seiner Frau in der Grube,
ein „Gast", ein Bettler zu heißen, er, der einst so wohlhabend gewesen, daß er
jeden Sabbath selber drei „Gäste" bewirthete. Wer den alten Mann hinkeuchen
sah, staubbedeckt, das hagere Antlitz häßlich verzogen von Müh und Anstrengung,
die knochige Hand, auf der idie blauen Adern emporquollen, krampfhaft auf die
Schnur gepreßt, die seinen Kram zusammenhielt, — der dachte gewiß, daß der
Schachergeist bes Hausirers stärker sein müsse als seine Altersschwäche. Nathan's
Gedanken beschäftigten sich aber wenig mit dem Kram auf seinem Rücken, sondern
er stellte Vergleichungen an zwischen Sonst und Jetzt und freute sich über die
vielen Veränderungen im Prager Leben. Der Judenhaß hatte merklich abgenommen.
„In der Jesuitengasse," dachte er, „bin ich doch früher jedesmal ans dem ersten
Stock begossen worden, was mir jetzt schon lange nit passirt ist, und die Kinder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/74>, abgerufen am 24.07.2024.