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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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der Judenstadt gelangt, als die Kniee des Anführers zu beben begannen und
sein Fuß in den Boden gewurzelt blieb. Mir ist wie dem Esel Bileam's, rief er,
ich sehe Geister; sie steigen ans dem Boden ans und von den Wolken herunter
nud winken mit abwehrenden Händen zurück. -- Du hast Dein Morgengebet
nicht andächtig verrichtet oder eiuen Spruch ausgelassen. Stellen wir eiuen
Andern an die Spitze, der sich nicht vernnreint hat. -- So sagten Mehrere,
allein es ging Allen wie dem jungen Rabbi, und so zogen sie traurig wieder
heim, und Jerusalem war verloren. Als aber der verhängnißvolle Tag kam, an
welchem Zion fiel und Jerusalem zerstört ward, erfüllte sich die Altnenschul plötz¬
lich mit dicker ägyptischer Finsterniß. Entsetzt floh die Gemeinde aus dem
Tempel, aber draußen glänzte der Himmel in heiterer Bläue. Schaudernd
erkannten sie die Bedeutung des Zeichens; sie schickten sich an zu fasten, zerrissen
ihre besten Gewänder und streuten die Asche der Zerstörung ans ihr Haupt.
Erst nach sieben Tagen verschwand die geheimnißvolle Finsterniß aus der
Synagoge, allein die weißen Wände blieben schwarz, wie die verkohlten Ceder-
balken im Tempel Jerusalems. Die Nacht der Verbannung, welche fortan über
den zerstreuten Kindern Israels schweben sollte', hatte zur steten Mahnung sich
auf die Wände der Altnenschul gelagert. Ihre Schwärze ist heilig, keine
Menschenhand vermag sie zu entfernen, der Finger verdorrt, der tempelschän-
derisch an ihr zu kratzen wagt, aber dereinst, am Tage der Erlösung, wird sie
von selber weichen, und dann strahlen die Wände des geweihten Hauses plötzlich
diamantfarbig wie die Thore des Himmels. Seit dem Fall Jerusalems
ist daher unter den Prager Juden der Fluch gebräuchlich: "Werde ver-
schwarzt!"

Jede Veränderung am Gebände oder den Geräthen dieses halb unterirdischen
Tempels ist verpönt. Im vorigen Jahrhundert vermaß sich ein Küster, in die
Wand der Altnenschul einen Nagel schlagen zu wollen. Da stürzte die Leiter um,
auf die er gestiegen war, Hammer und Nagel sielen ihm ans den Händen und
er blieb todt eine Stunde in der freien Luft hängen. Wie von Engeln getragen,
sank er darauf sanft und allmälig aus deu Boden und erwachte erst, nachdem man
die Todtenwaschnngen mit ihm vorgenommen und das Grabgewand ihm angelegt
hatte. Dieser Mann, aus dessen Antlitz sich bis an sein Ende nie mehr ein Lä¬
cheln zeigte, sah und hörte, während er an der Schwelle des Jenseits lag, Alles,
was um ihn vorging; das Jammern seiner Kinder, die Reden seiner Freunde
und Bekannten, selbst die Thränen und Küsse seines jungen Weibes fühlte er wie
siedend Blei auf Wangen und Lippen, ohne sich regen zu können. Was er, in
Lüften hängend, Mit dem innern Auge erschaute, waren schreckliche Gesichte; er
wollte sie Niemand anvertrauen, nur dem berühmten "Hoch Reb Löb", einem
Weisen und Frommen sonder Gleichen, beichtete er darüber.

In der Nähe des Gottesackers, der sich mitten im Ghetto befindet, zeigt


der Judenstadt gelangt, als die Kniee des Anführers zu beben begannen und
sein Fuß in den Boden gewurzelt blieb. Mir ist wie dem Esel Bileam's, rief er,
ich sehe Geister; sie steigen ans dem Boden ans und von den Wolken herunter
nud winken mit abwehrenden Händen zurück. — Du hast Dein Morgengebet
nicht andächtig verrichtet oder eiuen Spruch ausgelassen. Stellen wir eiuen
Andern an die Spitze, der sich nicht vernnreint hat. — So sagten Mehrere,
allein es ging Allen wie dem jungen Rabbi, und so zogen sie traurig wieder
heim, und Jerusalem war verloren. Als aber der verhängnißvolle Tag kam, an
welchem Zion fiel und Jerusalem zerstört ward, erfüllte sich die Altnenschul plötz¬
lich mit dicker ägyptischer Finsterniß. Entsetzt floh die Gemeinde aus dem
Tempel, aber draußen glänzte der Himmel in heiterer Bläue. Schaudernd
erkannten sie die Bedeutung des Zeichens; sie schickten sich an zu fasten, zerrissen
ihre besten Gewänder und streuten die Asche der Zerstörung ans ihr Haupt.
Erst nach sieben Tagen verschwand die geheimnißvolle Finsterniß aus der
Synagoge, allein die weißen Wände blieben schwarz, wie die verkohlten Ceder-
balken im Tempel Jerusalems. Die Nacht der Verbannung, welche fortan über
den zerstreuten Kindern Israels schweben sollte', hatte zur steten Mahnung sich
auf die Wände der Altnenschul gelagert. Ihre Schwärze ist heilig, keine
Menschenhand vermag sie zu entfernen, der Finger verdorrt, der tempelschän-
derisch an ihr zu kratzen wagt, aber dereinst, am Tage der Erlösung, wird sie
von selber weichen, und dann strahlen die Wände des geweihten Hauses plötzlich
diamantfarbig wie die Thore des Himmels. Seit dem Fall Jerusalems
ist daher unter den Prager Juden der Fluch gebräuchlich: „Werde ver-
schwarzt!"

Jede Veränderung am Gebände oder den Geräthen dieses halb unterirdischen
Tempels ist verpönt. Im vorigen Jahrhundert vermaß sich ein Küster, in die
Wand der Altnenschul einen Nagel schlagen zu wollen. Da stürzte die Leiter um,
auf die er gestiegen war, Hammer und Nagel sielen ihm ans den Händen und
er blieb todt eine Stunde in der freien Luft hängen. Wie von Engeln getragen,
sank er darauf sanft und allmälig aus deu Boden und erwachte erst, nachdem man
die Todtenwaschnngen mit ihm vorgenommen und das Grabgewand ihm angelegt
hatte. Dieser Mann, aus dessen Antlitz sich bis an sein Ende nie mehr ein Lä¬
cheln zeigte, sah und hörte, während er an der Schwelle des Jenseits lag, Alles,
was um ihn vorging; das Jammern seiner Kinder, die Reden seiner Freunde
und Bekannten, selbst die Thränen und Küsse seines jungen Weibes fühlte er wie
siedend Blei auf Wangen und Lippen, ohne sich regen zu können. Was er, in
Lüften hängend, Mit dem innern Auge erschaute, waren schreckliche Gesichte; er
wollte sie Niemand anvertrauen, nur dem berühmten „Hoch Reb Löb", einem
Weisen und Frommen sonder Gleichen, beichtete er darüber.

In der Nähe des Gottesackers, der sich mitten im Ghetto befindet, zeigt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/72>, abgerufen am 24.07.2024.