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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Kinnlade und ein Klumpen Zahnfleisch waren allerdings mit herausgerissen wor¬
den, doch während der junge Mann mit seinem gewiß nicht kleinen Schmerze
beschäftigt war und ich ihm ein Glas Wasser holte, wußte ich Zahnfleisch und
Kinnladcnstück von dem Zahne zu lösen, so daß ich ihm den Sünder rein von
allen Anhängseln präsentiren konnte. Als er nach meiner Forderung fragte und
ich bloß 25 Cents verlangte, war er seelenvergnügt. Meine Verdienste während
der ersten Woche waren nicht glänzend. -- In der zweiten Woche wurde ich in
der Nacht zu einer Wöchnerin gerufen, auch ein Geschäft, welches ich nur aus
meiner gedruckten Geburtshilfe kannte; ich nahm jedoch beim Eintritt in das
Hans meine feierlichste Miene an und betrat das Wochenzimmer. Hier fand ich
drei Nachbarfrauen versammelt, von welchen ich der einen einige Tage vorher
eine Abführung lM. die sieben mir von Ihnen empfohlenen Pillen) verabfolgt
hatte. Diese kam mir gleich freudig entgegen und nahm mich mit den Worten
bei der Hand: "Na, Doctor, das hat einmal gegangen, ich sage" Ihm, wie bei
einem Reiher; der andere dentschländer Doctor hatte mir vorher eine ganze Bottel
voll Stoff gegeben und mein Seel, ich habe keine Blähnng (sie drückte sich
kräftiger aus) danach gelassen." Ich dankte herzlich für das Kompliment und
suchte in diesen kritischen Augenblicken alle meine Buchgelehrsamkeit in meinem
Kopfe zu sammeln. Ich trat an das Bett und fing zu untersuchen an, aber der
Teufel soll mich holen, wenn mir die Untersuchung das geringste Licht über den
Kindestheil gab, welcher vorlag; ich überdachte nochmals die Bruchstücke der
Capitel in Namsbotham's Geburtshilfe, welche ich im Gedächtniß behalten hatte,
untersuchte wieder und war so klug wie vorher. -- Da fielen mir die statistischen
Tabellen des Hotel 6<z iiigtermtv in Paris ein, welche das übermäßige Verhältniß
der Geburten darlegen, welche Mutter Natur ohne Menschenhilfe verrichten kann,
tröstend erschienen die Warnungen aller neuern Geburtshelfer, das Werk der
Natur durch unnöthige und unzeitige Hilfe uicht zu gefährden. Ich bedachte,
daß ich ein enormes Pech haben müsse, wenn das zu erwartende Kind eines der
unendlich wenigen sei, welches durch seiue abnorme Lage Menschenhilse verlange.
Obgleich anscheinend eifrig beschäftigt, wurde ich ganz passiv, unterhielt mich mit
deu helfenden Damen, erzählte ihnen die Wunderthaten, die ich verübt, ermahnte
die Wöchnerin zur Geduld, machte ihr bemerklich, wie höchst albern es sei, mit
einem solchen Mann, wie mich, am Bette, die geringste Furcht zu haben, und
erwartete ruhig deu Erfolg. Ich wurde in meinem Vertrauen auf die Natur
uicht betrogen: der junge Weltbürger erschien. Besser bekannt mit den letzten
Pflichten des Accoucheurs, machte ich meine Sache zu Aller Zufriedenheit, die
Frau dankte mir unter Thränen für die wichtigen Dienste, die ich ihr geleistet
hatte, und der Mann, ebenfalls hocherfreut, drückte mir eine Fünfdollarsnote beim
Abschied in die Hand.

Von nun an sing meine Praxis an, sich zu heben, und ich konnte die


Kinnlade und ein Klumpen Zahnfleisch waren allerdings mit herausgerissen wor¬
den, doch während der junge Mann mit seinem gewiß nicht kleinen Schmerze
beschäftigt war und ich ihm ein Glas Wasser holte, wußte ich Zahnfleisch und
Kinnladcnstück von dem Zahne zu lösen, so daß ich ihm den Sünder rein von
allen Anhängseln präsentiren konnte. Als er nach meiner Forderung fragte und
ich bloß 25 Cents verlangte, war er seelenvergnügt. Meine Verdienste während
der ersten Woche waren nicht glänzend. — In der zweiten Woche wurde ich in
der Nacht zu einer Wöchnerin gerufen, auch ein Geschäft, welches ich nur aus
meiner gedruckten Geburtshilfe kannte; ich nahm jedoch beim Eintritt in das
Hans meine feierlichste Miene an und betrat das Wochenzimmer. Hier fand ich
drei Nachbarfrauen versammelt, von welchen ich der einen einige Tage vorher
eine Abführung lM. die sieben mir von Ihnen empfohlenen Pillen) verabfolgt
hatte. Diese kam mir gleich freudig entgegen und nahm mich mit den Worten
bei der Hand: „Na, Doctor, das hat einmal gegangen, ich sage" Ihm, wie bei
einem Reiher; der andere dentschländer Doctor hatte mir vorher eine ganze Bottel
voll Stoff gegeben und mein Seel, ich habe keine Blähnng (sie drückte sich
kräftiger aus) danach gelassen." Ich dankte herzlich für das Kompliment und
suchte in diesen kritischen Augenblicken alle meine Buchgelehrsamkeit in meinem
Kopfe zu sammeln. Ich trat an das Bett und fing zu untersuchen an, aber der
Teufel soll mich holen, wenn mir die Untersuchung das geringste Licht über den
Kindestheil gab, welcher vorlag; ich überdachte nochmals die Bruchstücke der
Capitel in Namsbotham's Geburtshilfe, welche ich im Gedächtniß behalten hatte,
untersuchte wieder und war so klug wie vorher. — Da fielen mir die statistischen
Tabellen des Hotel 6<z iiigtermtv in Paris ein, welche das übermäßige Verhältniß
der Geburten darlegen, welche Mutter Natur ohne Menschenhilfe verrichten kann,
tröstend erschienen die Warnungen aller neuern Geburtshelfer, das Werk der
Natur durch unnöthige und unzeitige Hilfe uicht zu gefährden. Ich bedachte,
daß ich ein enormes Pech haben müsse, wenn das zu erwartende Kind eines der
unendlich wenigen sei, welches durch seiue abnorme Lage Menschenhilse verlange.
Obgleich anscheinend eifrig beschäftigt, wurde ich ganz passiv, unterhielt mich mit
deu helfenden Damen, erzählte ihnen die Wunderthaten, die ich verübt, ermahnte
die Wöchnerin zur Geduld, machte ihr bemerklich, wie höchst albern es sei, mit
einem solchen Mann, wie mich, am Bette, die geringste Furcht zu haben, und
erwartete ruhig deu Erfolg. Ich wurde in meinem Vertrauen auf die Natur
uicht betrogen: der junge Weltbürger erschien. Besser bekannt mit den letzten
Pflichten des Accoucheurs, machte ich meine Sache zu Aller Zufriedenheit, die
Frau dankte mir unter Thränen für die wichtigen Dienste, die ich ihr geleistet
hatte, und der Mann, ebenfalls hocherfreut, drückte mir eine Fünfdollarsnote beim
Abschied in die Hand.

Von nun an sing meine Praxis an, sich zu heben, und ich konnte die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/67>, abgerufen am 24.07.2024.