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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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entsprungen, derselben auch in höherer, künstlerischer Gestalt zugänglich waren und
von ihr verstanden wurden. Die glanzvolle Aufnahme der Weber'scheu Werke
findet zumeist darin ihre Erklärung und Rechtfertigung. Mit dem Tode Weber's
und Beethoven's tritt eigentlich wieder ein Stillstand ein; nur Einer uuter den
jetzt Lebenden ist in Weber's Fußtapfen getreten und sein würdiger Nachfolger
geworden; dies ist Heinrich Marschuer. Lortzing und Flotow gehören nicht
dazu. Lortzing's Opern sind unselbständig und somit in der Kunstgeschichte von
keiner Bedeutung; sie sind zusammengeflickt aus allerlei Plagiaten. Der frühere,
geschickte Opernsänger hatte in den Kammern seines Gedächtnisses eine nicht
unbeträchtliche Masse Material aufgesammelt, welches er bei seinen, mit vieler
Routine zusammengeleimten sujets vortrefflich an den Mann zu bringen
wußte. Darum tragen auch Lortzing's Opern den Charakter aller Schalen an
sich, welche je in Deutschland, Frankreich und Italien für die dramatische Musik
maßgebend waren. Nicht sowohl künstlerische Absichten spornten ihn zu solch
außergewöhnlicher Thätigkeit, sondern lediglich der in ihm so ausgebildete Trieb
der Nachahmung. Flotow ijt vielleicht noch schlimmer, denn er ist einseitiger; er
kennt. uur ein Muster, den leichtfüßigen Ander, nach dessen Beispiele er seine
Tanzweisen und Kunststückchen gefunden hat. Die neueste Zeit hat zwei audere
Versuche aufzuweisen, die Oper Genoveva von Schumann und den Corsar von
Nietz. Beide Männer zählen unter die tüchtigsten musikalischen Kräfte unseres
Vaterlandes, ihre Werke sind voll gediegener Einzelheiten, sie strotzen von Soli¬
dität, aber sie enthalten keine volkstümlichen edleren Melodien, nicht einmal
genügend anregende Rhythmen. Vergeblich sucht man in ihnen das glänzende
Licht eiues frischen warmen Lebens, sie sind dunkel und farblos, Producte der
weisen Theorie.

Weber und Marschner werden jetzt Romantiker genannt, und zwar auf eine
Weise, als ob man zufrieden sei, diesen Standpunkt überwunden zu haben.
Es ist nicht die Absicht, hier diese Romantik in der Musik zu charakterisiren, noch
weniger sie zu verurtheilen. Denn in der deutscheu dramatischen Musik haben
wir noch keine blühende neue Richtung, welche Edleres und Schöneres zu
bieten vermöchte. Der erste große Vorzug der Richtung Weber's und
Marschner's ist folgender: sie enthalten scharf abgegrenzte Charaktere, die dem
Componisten die Möglichkeit an die Hand gaben, treffende Tonbilder zu schaffen,
schlagende, wenn auch oft grobe Wirkungen zu erzielen, die das Gemüth ergreifen
und zu ihrem Verständniß uicht erst minutenlange Grübeleien bedürfen.
Marschuer erscheint in seiner Charakterzeichnung und der Färbung, welche er
seinen Tonbildern gibt, kraftvoll, derb, zuweilen forcirt, Weber spinnt feinere
Fäden, und minder einseitig, als sein Nachfolger, weiß er auch die zartesten
Situationen wirkungsvoll zu malen, er ist zuweilen ein vollendeter Lyriker. Wie
bei allen Epigonen, so treten auch bei Marschner die Fehler seines Vorbildes


entsprungen, derselben auch in höherer, künstlerischer Gestalt zugänglich waren und
von ihr verstanden wurden. Die glanzvolle Aufnahme der Weber'scheu Werke
findet zumeist darin ihre Erklärung und Rechtfertigung. Mit dem Tode Weber's
und Beethoven's tritt eigentlich wieder ein Stillstand ein; nur Einer uuter den
jetzt Lebenden ist in Weber's Fußtapfen getreten und sein würdiger Nachfolger
geworden; dies ist Heinrich Marschuer. Lortzing und Flotow gehören nicht
dazu. Lortzing's Opern sind unselbständig und somit in der Kunstgeschichte von
keiner Bedeutung; sie sind zusammengeflickt aus allerlei Plagiaten. Der frühere,
geschickte Opernsänger hatte in den Kammern seines Gedächtnisses eine nicht
unbeträchtliche Masse Material aufgesammelt, welches er bei seinen, mit vieler
Routine zusammengeleimten sujets vortrefflich an den Mann zu bringen
wußte. Darum tragen auch Lortzing's Opern den Charakter aller Schalen an
sich, welche je in Deutschland, Frankreich und Italien für die dramatische Musik
maßgebend waren. Nicht sowohl künstlerische Absichten spornten ihn zu solch
außergewöhnlicher Thätigkeit, sondern lediglich der in ihm so ausgebildete Trieb
der Nachahmung. Flotow ijt vielleicht noch schlimmer, denn er ist einseitiger; er
kennt. uur ein Muster, den leichtfüßigen Ander, nach dessen Beispiele er seine
Tanzweisen und Kunststückchen gefunden hat. Die neueste Zeit hat zwei audere
Versuche aufzuweisen, die Oper Genoveva von Schumann und den Corsar von
Nietz. Beide Männer zählen unter die tüchtigsten musikalischen Kräfte unseres
Vaterlandes, ihre Werke sind voll gediegener Einzelheiten, sie strotzen von Soli¬
dität, aber sie enthalten keine volkstümlichen edleren Melodien, nicht einmal
genügend anregende Rhythmen. Vergeblich sucht man in ihnen das glänzende
Licht eiues frischen warmen Lebens, sie sind dunkel und farblos, Producte der
weisen Theorie.

Weber und Marschner werden jetzt Romantiker genannt, und zwar auf eine
Weise, als ob man zufrieden sei, diesen Standpunkt überwunden zu haben.
Es ist nicht die Absicht, hier diese Romantik in der Musik zu charakterisiren, noch
weniger sie zu verurtheilen. Denn in der deutscheu dramatischen Musik haben
wir noch keine blühende neue Richtung, welche Edleres und Schöneres zu
bieten vermöchte. Der erste große Vorzug der Richtung Weber's und
Marschner's ist folgender: sie enthalten scharf abgegrenzte Charaktere, die dem
Componisten die Möglichkeit an die Hand gaben, treffende Tonbilder zu schaffen,
schlagende, wenn auch oft grobe Wirkungen zu erzielen, die das Gemüth ergreifen
und zu ihrem Verständniß uicht erst minutenlange Grübeleien bedürfen.
Marschuer erscheint in seiner Charakterzeichnung und der Färbung, welche er
seinen Tonbildern gibt, kraftvoll, derb, zuweilen forcirt, Weber spinnt feinere
Fäden, und minder einseitig, als sein Nachfolger, weiß er auch die zartesten
Situationen wirkungsvoll zu malen, er ist zuweilen ein vollendeter Lyriker. Wie
bei allen Epigonen, so treten auch bei Marschner die Fehler seines Vorbildes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/60>, abgerufen am 24.07.2024.