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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Heinrich Marschner.

Von 1830---50 war Marschner der gefeiertste nnter den lebenden deutschen
Tonsetzern. Sein Ruf verdunkelte sich, als seine neuesten Werke minder gehalt¬
voll erschienen, als Mendelssohn durch seine autiquarisch-classisch-romantischen Ton¬
stücke die Neugierde und Aufmerksamkeit der Kunstwelt erregte, und Schumann
durch seine phantastische Muse einen Kreis von Anbetern zu erringen wußte, der
uur für ihn Sinn hatte, und alle Existenz von sonstigen guten Dingen in der
Kunst uegirte. Marschuer hat in den letzten Zeiten nicht allein die Ungunst des
großen Publicums erfahren; viele Andre, die vor zwanzig Jahren hochgerühmt
waren, haben dies Schicksal getheilt. Seine hervorragendsten Schicksalsgefährten
dürften folgende sein: Schneider, Reißiger, Lachn er, Lindpaintner
und Kalliwoda. Der Erste in dieser Reihe, Schneider, wird hier nur vor¬
übergehend zu erwähnen sein; er bietet keine Vergleichungspunkte mit Marschner,
da er der dramatischen Compositionen nur wenige schrieb, und seine ausschließliche
Thätigkeit dem Oratorium und der Orchestermusik zuwendete. Ein ähnliches Ver¬
hältniß findet mit Kalliwoda statt, von dem wir hauptsächlich Orchesterwerke und
allerhand Virtuosenstücke besitzen, wozu noch einige Gesangwerke kommen, die
den ersteren gegenüber von geringerer Bedeutung sind. Die andern Helden dieser
Zeit, Neißiger, Liudpaiutuer und Lachuer, stehen mit Marschner in näherer Be¬
ziehung, sie waren lange Zeit auf deu deutschen Bühnen seiue Rivalen, und entwickel¬
ten offenbar mehr Geschick und Glück, sich die Gunst des großen Publicums zu
erwerben; sie waren geschmeidige Naturen, gaben bereitwillig immer das, was
man gerade verlangte, und coqucttirten mit jeder Richtung; ihre Partituren geben
das Bild einer Musterkarte, auf welcher die Proben deutscher, französischer und
italienischer Arbeit quodlibetartig unter einander gemischt sind. Man kann sie
die Eklektiker unter den dramatischen Componisten Deutschlands nennen, und ob
sie auch nicht immer das Beste für sich auswählten, das Brauchbarste wußten sie
jedenfalls zu finden. Es gab eine Zeit, in welcher dieses Verfahren von vielen
Seiten gut geheißen wurde; sie ist erst verschwunden, als Beethoven's großartige
Schöpfungen den Sinn für gute und ernste Musik zu heben anfingen, als im
Vaterlande das Bewußtsein der eigenen Kraft erstarkte und der Muth sich fand,
den fremden Einflüssen in Kunst, Wissenschaft und Leben die deutsche Seele
gegenüberzustellen. Von diesem Zeitpunkt an verschwanden jene geschmeidigen
Künstler und ihre Werke traten in den Hintergrund. Von der großen Anzahl
aller Werke, welcher die deutsche dramatische Muse in jener Zeit entstehen ließ,
sind nur die Compositionen von zwei Tonsetzern übrig geblieben. Diese beiden
sind Spohr und Marschner. Spohr hat sich niemals, wie Marschner, aus¬
schließlich der dramatischen Composttion ergeben, dagegen stritt schon seine Natur,


Heinrich Marschner.

Von 1830—-50 war Marschner der gefeiertste nnter den lebenden deutschen
Tonsetzern. Sein Ruf verdunkelte sich, als seine neuesten Werke minder gehalt¬
voll erschienen, als Mendelssohn durch seine autiquarisch-classisch-romantischen Ton¬
stücke die Neugierde und Aufmerksamkeit der Kunstwelt erregte, und Schumann
durch seine phantastische Muse einen Kreis von Anbetern zu erringen wußte, der
uur für ihn Sinn hatte, und alle Existenz von sonstigen guten Dingen in der
Kunst uegirte. Marschuer hat in den letzten Zeiten nicht allein die Ungunst des
großen Publicums erfahren; viele Andre, die vor zwanzig Jahren hochgerühmt
waren, haben dies Schicksal getheilt. Seine hervorragendsten Schicksalsgefährten
dürften folgende sein: Schneider, Reißiger, Lachn er, Lindpaintner
und Kalliwoda. Der Erste in dieser Reihe, Schneider, wird hier nur vor¬
übergehend zu erwähnen sein; er bietet keine Vergleichungspunkte mit Marschner,
da er der dramatischen Compositionen nur wenige schrieb, und seine ausschließliche
Thätigkeit dem Oratorium und der Orchestermusik zuwendete. Ein ähnliches Ver¬
hältniß findet mit Kalliwoda statt, von dem wir hauptsächlich Orchesterwerke und
allerhand Virtuosenstücke besitzen, wozu noch einige Gesangwerke kommen, die
den ersteren gegenüber von geringerer Bedeutung sind. Die andern Helden dieser
Zeit, Neißiger, Liudpaiutuer und Lachuer, stehen mit Marschner in näherer Be¬
ziehung, sie waren lange Zeit auf deu deutschen Bühnen seiue Rivalen, und entwickel¬
ten offenbar mehr Geschick und Glück, sich die Gunst des großen Publicums zu
erwerben; sie waren geschmeidige Naturen, gaben bereitwillig immer das, was
man gerade verlangte, und coqucttirten mit jeder Richtung; ihre Partituren geben
das Bild einer Musterkarte, auf welcher die Proben deutscher, französischer und
italienischer Arbeit quodlibetartig unter einander gemischt sind. Man kann sie
die Eklektiker unter den dramatischen Componisten Deutschlands nennen, und ob
sie auch nicht immer das Beste für sich auswählten, das Brauchbarste wußten sie
jedenfalls zu finden. Es gab eine Zeit, in welcher dieses Verfahren von vielen
Seiten gut geheißen wurde; sie ist erst verschwunden, als Beethoven's großartige
Schöpfungen den Sinn für gute und ernste Musik zu heben anfingen, als im
Vaterlande das Bewußtsein der eigenen Kraft erstarkte und der Muth sich fand,
den fremden Einflüssen in Kunst, Wissenschaft und Leben die deutsche Seele
gegenüberzustellen. Von diesem Zeitpunkt an verschwanden jene geschmeidigen
Künstler und ihre Werke traten in den Hintergrund. Von der großen Anzahl
aller Werke, welcher die deutsche dramatische Muse in jener Zeit entstehen ließ,
sind nur die Compositionen von zwei Tonsetzern übrig geblieben. Diese beiden
sind Spohr und Marschner. Spohr hat sich niemals, wie Marschner, aus¬
schließlich der dramatischen Composttion ergeben, dagegen stritt schon seine Natur,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/58>, abgerufen am 24.07.2024.