Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

lieben Emdeckungen, die sie gemacht, noch an die Möglichkeit eines weitern Glücks
glauben kann, ist ein häßlicher Zug, der ans dem Bilde der Maria Magdalena
nicht vorkommt. Diese Letztere reißt uns durch die Gewalt und Energie ihrer
Verzweiflung mit sich fort; bei der Julia werden wir aber in der Verzweiflung
durch ein beständiges berechnendes Abwägen gestört und verstimmt.

Antonio ist im Drama der einzige lebendige Charakter. Er ist zwar ein
Sünder, aber er hat in der Sünde einen tüchtigen Fonds von natürlichem Ge¬
fühl und eine sehr starke Energie in der Leidenschaft des Hasses und der Liebe
bewahrt. Die Motivirung seines sündhaften Lebens durch seiue erste Erziehung
ist gut durchgeführt.

Es bleibt uns uoch ein Charakter übrig, den wir bisher nnr oberflächlich
erwähnt haben, weil die Breite, in der er anftritt, dein Stück nicht wesentlich
ist: Juliens Vater Tobaldi. Er ist das vollkommene Ebenbild des Meister An¬
ton, nur in der aristokratischen Sphäre, und gehört zu jenen wunderlichen Cha¬
rakterproblemen, in denen sich Hebbel mit besonderer Vorliebe bewegt. Von Na¬
tur mit großem Edelmuth und grenzenloser Aufopferungsfähigkeit ausgestattet, hat
er sich zuletzt durch seiue Begriffe vou Ehre und Sittlichkeit in eine abstracte
Härte verloren, die man vom Cynismus nicht mehr unterscheiden kann; aber Mei¬
ster Anton ist sowohl in der Form wie in dem Wesen der Sache glücklicher durch¬
geführt. Einen knorrigen, in seinen bürgerlichen Vorurtheilen verhärteten Tisch¬
ler darzustellen, ist Hebbel gelungen, wenn man anch das Charakterbild häßlich
nennen muß; in das Denken und Empfinden, in das Sprechen und Benehmen
eines Aristokraten, der nie seine Würde, eines Jtalieners, der nie seine Natur aus
deu Augen verliert, weiß er sich aber nicht zu versetzen. Daß Tobaldi nach der
Flucht seiner Tochter, um vor den Augen der Welt gerechtfertigt zu sein, sie
für todt ausgibt und ihr ein Leichenbegängnis; hält; daß er sich darin auch
nicht stören läßt, als seine lebendige Tochter vor ihm erscheint, mag man
als aristokratischen Ersatz für das bürgerliche Halsabschneiden gelten lasse,!,
wenn dabei anch Vieles ans die Rechnung der Vorliebe für greuelvolle Nacht-
sceueu kommt; daß er aber mitten in diesen schrecklichen Todesscenen fortwährend
Witze macht, die eben so fade sind, als sie seiner Stimmung widersprechen müssen;
Witze sogar vor seinem vertrauten Freund, sogar im Monolog, sogar der wieder¬
gefundenen Tochter gegenüber, daß er den vermeintlichen Verführer mit kalter
Höflichkeit behandelt, anstatt ihm in der ersten Aufwallung deö Gefühls augen¬
blicklich ans den Leib zu gehen, -- das alles sind Züge, die vielleicht im Leben
einmal vorkommen mögen, denn welche Verrücktheit wäre so groß, daß man sie
nicht empirisch widerfinden könnte! die aber nicht mehr in die Grenze der Kunst
fallen" weil sie eine Abnormität sind, denn die Kunst soll uns nach Sophokles'
vollkommen richtigen: Ausspruch nur solche Meuscheu darstellen, in denen das
allgemein Menschliche sich ausspricht; Monstrositäten gehören in die Pathologie,


lieben Emdeckungen, die sie gemacht, noch an die Möglichkeit eines weitern Glücks
glauben kann, ist ein häßlicher Zug, der ans dem Bilde der Maria Magdalena
nicht vorkommt. Diese Letztere reißt uns durch die Gewalt und Energie ihrer
Verzweiflung mit sich fort; bei der Julia werden wir aber in der Verzweiflung
durch ein beständiges berechnendes Abwägen gestört und verstimmt.

Antonio ist im Drama der einzige lebendige Charakter. Er ist zwar ein
Sünder, aber er hat in der Sünde einen tüchtigen Fonds von natürlichem Ge¬
fühl und eine sehr starke Energie in der Leidenschaft des Hasses und der Liebe
bewahrt. Die Motivirung seines sündhaften Lebens durch seiue erste Erziehung
ist gut durchgeführt.

Es bleibt uns uoch ein Charakter übrig, den wir bisher nnr oberflächlich
erwähnt haben, weil die Breite, in der er anftritt, dein Stück nicht wesentlich
ist: Juliens Vater Tobaldi. Er ist das vollkommene Ebenbild des Meister An¬
ton, nur in der aristokratischen Sphäre, und gehört zu jenen wunderlichen Cha¬
rakterproblemen, in denen sich Hebbel mit besonderer Vorliebe bewegt. Von Na¬
tur mit großem Edelmuth und grenzenloser Aufopferungsfähigkeit ausgestattet, hat
er sich zuletzt durch seiue Begriffe vou Ehre und Sittlichkeit in eine abstracte
Härte verloren, die man vom Cynismus nicht mehr unterscheiden kann; aber Mei¬
ster Anton ist sowohl in der Form wie in dem Wesen der Sache glücklicher durch¬
geführt. Einen knorrigen, in seinen bürgerlichen Vorurtheilen verhärteten Tisch¬
ler darzustellen, ist Hebbel gelungen, wenn man anch das Charakterbild häßlich
nennen muß; in das Denken und Empfinden, in das Sprechen und Benehmen
eines Aristokraten, der nie seine Würde, eines Jtalieners, der nie seine Natur aus
deu Augen verliert, weiß er sich aber nicht zu versetzen. Daß Tobaldi nach der
Flucht seiner Tochter, um vor den Augen der Welt gerechtfertigt zu sein, sie
für todt ausgibt und ihr ein Leichenbegängnis; hält; daß er sich darin auch
nicht stören läßt, als seine lebendige Tochter vor ihm erscheint, mag man
als aristokratischen Ersatz für das bürgerliche Halsabschneiden gelten lasse,!,
wenn dabei anch Vieles ans die Rechnung der Vorliebe für greuelvolle Nacht-
sceueu kommt; daß er aber mitten in diesen schrecklichen Todesscenen fortwährend
Witze macht, die eben so fade sind, als sie seiner Stimmung widersprechen müssen;
Witze sogar vor seinem vertrauten Freund, sogar im Monolog, sogar der wieder¬
gefundenen Tochter gegenüber, daß er den vermeintlichen Verführer mit kalter
Höflichkeit behandelt, anstatt ihm in der ersten Aufwallung deö Gefühls augen¬
blicklich ans den Leib zu gehen, — das alles sind Züge, die vielleicht im Leben
einmal vorkommen mögen, denn welche Verrücktheit wäre so groß, daß man sie
nicht empirisch widerfinden könnte! die aber nicht mehr in die Grenze der Kunst
fallen» weil sie eine Abnormität sind, denn die Kunst soll uns nach Sophokles'
vollkommen richtigen: Ausspruch nur solche Meuscheu darstellen, in denen das
allgemein Menschliche sich ausspricht; Monstrositäten gehören in die Pathologie,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0515" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/92253"/>
          <p xml:id="ID_1597" prev="#ID_1596"> lieben Emdeckungen, die sie gemacht, noch an die Möglichkeit eines weitern Glücks<lb/>
glauben kann, ist ein häßlicher Zug, der ans dem Bilde der Maria Magdalena<lb/>
nicht vorkommt. Diese Letztere reißt uns durch die Gewalt und Energie ihrer<lb/>
Verzweiflung mit sich fort; bei der Julia werden wir aber in der Verzweiflung<lb/>
durch ein beständiges berechnendes Abwägen gestört und verstimmt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1598"> Antonio ist im Drama der einzige lebendige Charakter. Er ist zwar ein<lb/>
Sünder, aber er hat in der Sünde einen tüchtigen Fonds von natürlichem Ge¬<lb/>
fühl und eine sehr starke Energie in der Leidenschaft des Hasses und der Liebe<lb/>
bewahrt. Die Motivirung seines sündhaften Lebens durch seiue erste Erziehung<lb/>
ist gut durchgeführt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1599" next="#ID_1600"> Es bleibt uns uoch ein Charakter übrig, den wir bisher nnr oberflächlich<lb/>
erwähnt haben, weil die Breite, in der er anftritt, dein Stück nicht wesentlich<lb/>
ist: Juliens Vater Tobaldi. Er ist das vollkommene Ebenbild des Meister An¬<lb/>
ton, nur in der aristokratischen Sphäre, und gehört zu jenen wunderlichen Cha¬<lb/>
rakterproblemen, in denen sich Hebbel mit besonderer Vorliebe bewegt. Von Na¬<lb/>
tur mit großem Edelmuth und grenzenloser Aufopferungsfähigkeit ausgestattet, hat<lb/>
er sich zuletzt durch seiue Begriffe vou Ehre und Sittlichkeit in eine abstracte<lb/>
Härte verloren, die man vom Cynismus nicht mehr unterscheiden kann; aber Mei¬<lb/>
ster Anton ist sowohl in der Form wie in dem Wesen der Sache glücklicher durch¬<lb/>
geführt. Einen knorrigen, in seinen bürgerlichen Vorurtheilen verhärteten Tisch¬<lb/>
ler darzustellen, ist Hebbel gelungen, wenn man anch das Charakterbild häßlich<lb/>
nennen muß; in das Denken und Empfinden, in das Sprechen und Benehmen<lb/>
eines Aristokraten, der nie seine Würde, eines Jtalieners, der nie seine Natur aus<lb/>
deu Augen verliert, weiß er sich aber nicht zu versetzen. Daß Tobaldi nach der<lb/>
Flucht seiner Tochter, um vor den Augen der Welt gerechtfertigt zu sein, sie<lb/>
für todt ausgibt und ihr ein Leichenbegängnis; hält; daß er sich darin auch<lb/>
nicht stören läßt, als seine lebendige Tochter vor ihm erscheint, mag man<lb/>
als aristokratischen Ersatz für das bürgerliche Halsabschneiden gelten lasse,!,<lb/>
wenn dabei anch Vieles ans die Rechnung der Vorliebe für greuelvolle Nacht-<lb/>
sceueu kommt; daß er aber mitten in diesen schrecklichen Todesscenen fortwährend<lb/>
Witze macht, die eben so fade sind, als sie seiner Stimmung widersprechen müssen;<lb/>
Witze sogar vor seinem vertrauten Freund, sogar im Monolog, sogar der wieder¬<lb/>
gefundenen Tochter gegenüber, daß er den vermeintlichen Verführer mit kalter<lb/>
Höflichkeit behandelt, anstatt ihm in der ersten Aufwallung deö Gefühls augen¬<lb/>
blicklich ans den Leib zu gehen, &#x2014; das alles sind Züge, die vielleicht im Leben<lb/>
einmal vorkommen mögen, denn welche Verrücktheit wäre so groß, daß man sie<lb/>
nicht empirisch widerfinden könnte! die aber nicht mehr in die Grenze der Kunst<lb/>
fallen» weil sie eine Abnormität sind, denn die Kunst soll uns nach Sophokles'<lb/>
vollkommen richtigen: Ausspruch nur solche Meuscheu darstellen, in denen das<lb/>
allgemein Menschliche sich ausspricht; Monstrositäten gehören in die Pathologie,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0515] lieben Emdeckungen, die sie gemacht, noch an die Möglichkeit eines weitern Glücks glauben kann, ist ein häßlicher Zug, der ans dem Bilde der Maria Magdalena nicht vorkommt. Diese Letztere reißt uns durch die Gewalt und Energie ihrer Verzweiflung mit sich fort; bei der Julia werden wir aber in der Verzweiflung durch ein beständiges berechnendes Abwägen gestört und verstimmt. Antonio ist im Drama der einzige lebendige Charakter. Er ist zwar ein Sünder, aber er hat in der Sünde einen tüchtigen Fonds von natürlichem Ge¬ fühl und eine sehr starke Energie in der Leidenschaft des Hasses und der Liebe bewahrt. Die Motivirung seines sündhaften Lebens durch seiue erste Erziehung ist gut durchgeführt. Es bleibt uns uoch ein Charakter übrig, den wir bisher nnr oberflächlich erwähnt haben, weil die Breite, in der er anftritt, dein Stück nicht wesentlich ist: Juliens Vater Tobaldi. Er ist das vollkommene Ebenbild des Meister An¬ ton, nur in der aristokratischen Sphäre, und gehört zu jenen wunderlichen Cha¬ rakterproblemen, in denen sich Hebbel mit besonderer Vorliebe bewegt. Von Na¬ tur mit großem Edelmuth und grenzenloser Aufopferungsfähigkeit ausgestattet, hat er sich zuletzt durch seiue Begriffe vou Ehre und Sittlichkeit in eine abstracte Härte verloren, die man vom Cynismus nicht mehr unterscheiden kann; aber Mei¬ ster Anton ist sowohl in der Form wie in dem Wesen der Sache glücklicher durch¬ geführt. Einen knorrigen, in seinen bürgerlichen Vorurtheilen verhärteten Tisch¬ ler darzustellen, ist Hebbel gelungen, wenn man anch das Charakterbild häßlich nennen muß; in das Denken und Empfinden, in das Sprechen und Benehmen eines Aristokraten, der nie seine Würde, eines Jtalieners, der nie seine Natur aus deu Augen verliert, weiß er sich aber nicht zu versetzen. Daß Tobaldi nach der Flucht seiner Tochter, um vor den Augen der Welt gerechtfertigt zu sein, sie für todt ausgibt und ihr ein Leichenbegängnis; hält; daß er sich darin auch nicht stören läßt, als seine lebendige Tochter vor ihm erscheint, mag man als aristokratischen Ersatz für das bürgerliche Halsabschneiden gelten lasse,!, wenn dabei anch Vieles ans die Rechnung der Vorliebe für greuelvolle Nacht- sceueu kommt; daß er aber mitten in diesen schrecklichen Todesscenen fortwährend Witze macht, die eben so fade sind, als sie seiner Stimmung widersprechen müssen; Witze sogar vor seinem vertrauten Freund, sogar im Monolog, sogar der wieder¬ gefundenen Tochter gegenüber, daß er den vermeintlichen Verführer mit kalter Höflichkeit behandelt, anstatt ihm in der ersten Aufwallung deö Gefühls augen¬ blicklich ans den Leib zu gehen, — das alles sind Züge, die vielleicht im Leben einmal vorkommen mögen, denn welche Verrücktheit wäre so groß, daß man sie nicht empirisch widerfinden könnte! die aber nicht mehr in die Grenze der Kunst fallen» weil sie eine Abnormität sind, denn die Kunst soll uns nach Sophokles' vollkommen richtigen: Ausspruch nur solche Meuscheu darstellen, in denen das allgemein Menschliche sich ausspricht; Monstrositäten gehören in die Pathologie,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/515
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/515>, abgerufen am 24.07.2024.