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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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flieht sie dem Zorne ihres Vaters, sucht ihren Verführer zuerst an dem Ort ans,
den er ihr als seinen Wohnplatz angegeben hat, ist, als sie ihn anch da nicht
findet, von seiner Treulosigkeit überzeugt, und beschließt zu sterben. In dieser
Stimmung findet sie ein Graf Bertram aus Tyrol, der durch ein lasterhaftes Le¬
ben so ausgehöhlt ist, daß er sich uicht uur für unfähig hält, irgend etwas in
der Welt zu leisten, sondern nicht einmal das Recht zu haben glaubt, sich selbst
zu tödten. Das ist bei einen: Blastrten eine zu rafstnirte Sentimentalität. Theils
um dieses Recht zu erlangen, theils um die Unglückliche in den Augen der Welt
zu restauriren, bietet er ihr eine Scheinehe an, unter der Bedingung, sie solle
es ihm sagen, wenn ihr Geliebter wiederkehrt; er wolle ihm dann Platz machen.
Sie geht darauf ein. Der Versuch, sie in den Augen ihres Vaters zu rechtfer¬
tigen, scheitert an dem Starrsinn des alten Mannes. Die Neuvermählten bege¬
ben sich aus das Schloß des Grafen, wo jener Antonio sich wieder einfindet, sein
Ausbleiben dnrch eine tödliche 'Verwundung und durch die Unmöglichkeit, einen
sichern Boden zu schicken, motivirt und dadurch das Herz Juliens, das er eigent¬
lich nie verloren hat, wieder gewinnt. Dem Grafen bleibt also nichts weiter
übrig, als seinen Entschluß auszuführen. Da er aber dnrch einen directen Selbst¬
mord das Zartgefühl der beiden Liebenden verletzen würde, so wird er, wie der
Jaques von George Sand, es so einzurichten wissen, daß man seinen Tod einem
Zufall zuschreiben muß. Alsdann haben ihm Julia und Antonio versprochen "zu
versuchen, ob sie noch glücklich sein können", d. h. sich zu heirathen.

Die Aussicht, mit der das Stück schließt, gibt keine sehr erbauliche Perspec-
tive. So geschickt es Bertram anfangen mag, die beiden Liebenden werden es
doch immer wissen, daß er um ihretwillen gestorben ist, und da sein früheres Le-
ben sie nichts angeht, und er sich ihnen gegenüber nnr als großmüthiger Wohl¬
thäter bewährt hat, so werden sie dieses Bewußtsein als eine Schuld empfinde".
Diese üble Lage wird noch dadurch mißlicher, daß Antonio ein Räuberhauptmann
ist, auf dessen Kopf ein Preis steht. Zwar ist er zu dieser Stellung durch Ver¬
hältnisse gekommen, die ihn menschlich entschuldigen, vor dem Gericht würde aber
diese Entschuldigung keine Stätte finden. Zu jenem Bewußtsein der Schuld,
welches noch dadurch erhöht wird, daß die beiden Vermählten von dem Nachlaß
des Grafen leben müssen, wird sich also eine beständige Furcht gesellen, und so
sehen wir eiuer sehr unglückseligen Zukunft entgegen, die nicht- einmal der Hoff¬
nung einer erusthaften Buße Raum gibt. Das Opfer des Grafen, wenn es ein
wirkliches war, erreicht also seinen Zweck nicht; war es aber kein wirkliches, son¬
dern nnr, wie er es selber angibt, eine bequeme Ausrede für einen ohnehin gewollten
Selbstmord, so ist es kein tragisches Motiv, und erregt nicht einmal unser Mit¬
gefühl. Der Ausgang, wie die ganze Tragödie überhaupt, verstimmt und ängstigt
uns, ohne uns irgendwie zu erschüttern oder zu rühren.

Aehnlich geht es uns mit den einzelnen Charaktern, die hier in Betracht


flieht sie dem Zorne ihres Vaters, sucht ihren Verführer zuerst an dem Ort ans,
den er ihr als seinen Wohnplatz angegeben hat, ist, als sie ihn anch da nicht
findet, von seiner Treulosigkeit überzeugt, und beschließt zu sterben. In dieser
Stimmung findet sie ein Graf Bertram aus Tyrol, der durch ein lasterhaftes Le¬
ben so ausgehöhlt ist, daß er sich uicht uur für unfähig hält, irgend etwas in
der Welt zu leisten, sondern nicht einmal das Recht zu haben glaubt, sich selbst
zu tödten. Das ist bei einen: Blastrten eine zu rafstnirte Sentimentalität. Theils
um dieses Recht zu erlangen, theils um die Unglückliche in den Augen der Welt
zu restauriren, bietet er ihr eine Scheinehe an, unter der Bedingung, sie solle
es ihm sagen, wenn ihr Geliebter wiederkehrt; er wolle ihm dann Platz machen.
Sie geht darauf ein. Der Versuch, sie in den Augen ihres Vaters zu rechtfer¬
tigen, scheitert an dem Starrsinn des alten Mannes. Die Neuvermählten bege¬
ben sich aus das Schloß des Grafen, wo jener Antonio sich wieder einfindet, sein
Ausbleiben dnrch eine tödliche 'Verwundung und durch die Unmöglichkeit, einen
sichern Boden zu schicken, motivirt und dadurch das Herz Juliens, das er eigent¬
lich nie verloren hat, wieder gewinnt. Dem Grafen bleibt also nichts weiter
übrig, als seinen Entschluß auszuführen. Da er aber dnrch einen directen Selbst¬
mord das Zartgefühl der beiden Liebenden verletzen würde, so wird er, wie der
Jaques von George Sand, es so einzurichten wissen, daß man seinen Tod einem
Zufall zuschreiben muß. Alsdann haben ihm Julia und Antonio versprochen „zu
versuchen, ob sie noch glücklich sein können", d. h. sich zu heirathen.

Die Aussicht, mit der das Stück schließt, gibt keine sehr erbauliche Perspec-
tive. So geschickt es Bertram anfangen mag, die beiden Liebenden werden es
doch immer wissen, daß er um ihretwillen gestorben ist, und da sein früheres Le-
ben sie nichts angeht, und er sich ihnen gegenüber nnr als großmüthiger Wohl¬
thäter bewährt hat, so werden sie dieses Bewußtsein als eine Schuld empfinde».
Diese üble Lage wird noch dadurch mißlicher, daß Antonio ein Räuberhauptmann
ist, auf dessen Kopf ein Preis steht. Zwar ist er zu dieser Stellung durch Ver¬
hältnisse gekommen, die ihn menschlich entschuldigen, vor dem Gericht würde aber
diese Entschuldigung keine Stätte finden. Zu jenem Bewußtsein der Schuld,
welches noch dadurch erhöht wird, daß die beiden Vermählten von dem Nachlaß
des Grafen leben müssen, wird sich also eine beständige Furcht gesellen, und so
sehen wir eiuer sehr unglückseligen Zukunft entgegen, die nicht- einmal der Hoff¬
nung einer erusthaften Buße Raum gibt. Das Opfer des Grafen, wenn es ein
wirkliches war, erreicht also seinen Zweck nicht; war es aber kein wirkliches, son¬
dern nnr, wie er es selber angibt, eine bequeme Ausrede für einen ohnehin gewollten
Selbstmord, so ist es kein tragisches Motiv, und erregt nicht einmal unser Mit¬
gefühl. Der Ausgang, wie die ganze Tragödie überhaupt, verstimmt und ängstigt
uns, ohne uns irgendwie zu erschüttern oder zu rühren.

Aehnlich geht es uns mit den einzelnen Charaktern, die hier in Betracht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/512>, abgerufen am 04.07.2024.