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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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weitere Vergleichung den Eindruck der Wahrheit machen; die Hauptsache aber ist
die Autorität, welche der Kritiker beim Publicum durch die Nichtigkeit früherer
Urtheile, die es geprüft hat, sich zu erwerben wußte.

Wenn wir diesen Grundsatz festhalten, so werden wir uns überzeuge", daß
der Einfluß der Kritik ein beschränkter ist, und damit auch die Verpflichtungen,
die man ihr auferlegt, und die Vorwürfe, die man ihr macht. Eine Kritik, die
mit Principien operirt, welche von dem Publicum nicht gebilligt werden, oder
welche in den Principien inconsequent ist, oder welche den Glauben an ihre Ge¬
wissenhaftigkeit in der Anwendung derselben verscherzt, wird sich auch keine Au¬
torität erwerben; wo aber diese Autorität vorhanden ist, wird sie dnrch alle Ver¬
sicherungen des beleidigten Dichters, daß sein Recensent ein "ästhetischer Kanne¬
gießer" sei, nicht erschüttert werden.

Wenn sich serner die Kritik nicht auf ein einzelnes Werk, sondern auf die Ge-
sammtthätigkeit eines Schriftstellers bezieht, so darf man allerdings verlangen,
daß der Kritiker, soviel es ihm möglich ist, sich über alle Schriften desselben, welche
zur Bildung des Urtheils ein wesentliches Moment beitragen können, sorgfältig
unterrichte; aber anch das kann über die Grenzen der Möglichkeit nicht Hinaus¬
gehen. Herr Hebbel hat seine Werke in so viel verschiedene, zum Theil ganz
obscure Zeitschriften verstreut, daß es geradezu unmöglich ist> sie alle zu kennen,
und der Kritiker erfüllt vollständig seine Pflicht, wenn er nachträglich, sobald er
zur Kenntniß derselben gelangt, die etwaigen Lücken oder unrichtigen Verhältnisse
seines ersten Bildes zu ergänzen und zu berichtigen sucht. Das vollständige
Urtheil über eine literarische Persönlichkeit kann erst nach dem Schluß der Acten
abgegeben werden. Dieser Pflicht bin ich aufs redlichste nachgekommen, und
werde so lange darin fortfahren, bis Hebbel in ein Stadium gekommen ist, wo er der
Kritik nicht mehr anheimfällt. Wenn er aber von mir verlangt, ich solle mich
auch um seiue Wiener Privatverhältnisse kümmern, so ist das ein wunderliches
Verlangen.

Seine Antikritik dreht sich vorzugsweise um den vermeintlichen Widerspruch
meiner letzten Recension über ihn gegen eine frühere ans dem Jahre 1847.
Dieser Widerspruch ist uicht ein objectiver, sondern ein subjectiver. In beiden
ist das sehr bedeutende Talent des Dichters anerkannt und charakterisirt, in
beiden ans seine Verirrungen hingewiesen, welche ihn hart an den Rand des
Unsinns führen. Dagegen ist die subjective Empfindung, in der beide Recen-
sionen geschrieben sind, allerdings eine sehr verschiedene. "Der Herr Schmidt
von 18-47" versuchte den Eindruck, welchen ihm die erste Lectüre der drei be-
deutendsten Dramen des Dichters gemacht hatte, mit jener Unbefangenheit wieder¬
zugeben, welche die ersten Aufsätze, die man für das Publicum schreibt, zu
charakterisiren pflegt; er war ergriffen von der großen Anlage des Dichters und
erschrocken über seine Verirrungen, er hatte die allerdings im 19. Jahrhundert


weitere Vergleichung den Eindruck der Wahrheit machen; die Hauptsache aber ist
die Autorität, welche der Kritiker beim Publicum durch die Nichtigkeit früherer
Urtheile, die es geprüft hat, sich zu erwerben wußte.

Wenn wir diesen Grundsatz festhalten, so werden wir uns überzeuge«, daß
der Einfluß der Kritik ein beschränkter ist, und damit auch die Verpflichtungen,
die man ihr auferlegt, und die Vorwürfe, die man ihr macht. Eine Kritik, die
mit Principien operirt, welche von dem Publicum nicht gebilligt werden, oder
welche in den Principien inconsequent ist, oder welche den Glauben an ihre Ge¬
wissenhaftigkeit in der Anwendung derselben verscherzt, wird sich auch keine Au¬
torität erwerben; wo aber diese Autorität vorhanden ist, wird sie dnrch alle Ver¬
sicherungen des beleidigten Dichters, daß sein Recensent ein „ästhetischer Kanne¬
gießer" sei, nicht erschüttert werden.

Wenn sich serner die Kritik nicht auf ein einzelnes Werk, sondern auf die Ge-
sammtthätigkeit eines Schriftstellers bezieht, so darf man allerdings verlangen,
daß der Kritiker, soviel es ihm möglich ist, sich über alle Schriften desselben, welche
zur Bildung des Urtheils ein wesentliches Moment beitragen können, sorgfältig
unterrichte; aber anch das kann über die Grenzen der Möglichkeit nicht Hinaus¬
gehen. Herr Hebbel hat seine Werke in so viel verschiedene, zum Theil ganz
obscure Zeitschriften verstreut, daß es geradezu unmöglich ist> sie alle zu kennen,
und der Kritiker erfüllt vollständig seine Pflicht, wenn er nachträglich, sobald er
zur Kenntniß derselben gelangt, die etwaigen Lücken oder unrichtigen Verhältnisse
seines ersten Bildes zu ergänzen und zu berichtigen sucht. Das vollständige
Urtheil über eine literarische Persönlichkeit kann erst nach dem Schluß der Acten
abgegeben werden. Dieser Pflicht bin ich aufs redlichste nachgekommen, und
werde so lange darin fortfahren, bis Hebbel in ein Stadium gekommen ist, wo er der
Kritik nicht mehr anheimfällt. Wenn er aber von mir verlangt, ich solle mich
auch um seiue Wiener Privatverhältnisse kümmern, so ist das ein wunderliches
Verlangen.

Seine Antikritik dreht sich vorzugsweise um den vermeintlichen Widerspruch
meiner letzten Recension über ihn gegen eine frühere ans dem Jahre 1847.
Dieser Widerspruch ist uicht ein objectiver, sondern ein subjectiver. In beiden
ist das sehr bedeutende Talent des Dichters anerkannt und charakterisirt, in
beiden ans seine Verirrungen hingewiesen, welche ihn hart an den Rand des
Unsinns führen. Dagegen ist die subjective Empfindung, in der beide Recen-
sionen geschrieben sind, allerdings eine sehr verschiedene. „Der Herr Schmidt
von 18-47" versuchte den Eindruck, welchen ihm die erste Lectüre der drei be-
deutendsten Dramen des Dichters gemacht hatte, mit jener Unbefangenheit wieder¬
zugeben, welche die ersten Aufsätze, die man für das Publicum schreibt, zu
charakterisiren pflegt; er war ergriffen von der großen Anlage des Dichters und
erschrocken über seine Verirrungen, er hatte die allerdings im 19. Jahrhundert


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[0507] weitere Vergleichung den Eindruck der Wahrheit machen; die Hauptsache aber ist die Autorität, welche der Kritiker beim Publicum durch die Nichtigkeit früherer Urtheile, die es geprüft hat, sich zu erwerben wußte. Wenn wir diesen Grundsatz festhalten, so werden wir uns überzeuge«, daß der Einfluß der Kritik ein beschränkter ist, und damit auch die Verpflichtungen, die man ihr auferlegt, und die Vorwürfe, die man ihr macht. Eine Kritik, die mit Principien operirt, welche von dem Publicum nicht gebilligt werden, oder welche in den Principien inconsequent ist, oder welche den Glauben an ihre Ge¬ wissenhaftigkeit in der Anwendung derselben verscherzt, wird sich auch keine Au¬ torität erwerben; wo aber diese Autorität vorhanden ist, wird sie dnrch alle Ver¬ sicherungen des beleidigten Dichters, daß sein Recensent ein „ästhetischer Kanne¬ gießer" sei, nicht erschüttert werden. Wenn sich serner die Kritik nicht auf ein einzelnes Werk, sondern auf die Ge- sammtthätigkeit eines Schriftstellers bezieht, so darf man allerdings verlangen, daß der Kritiker, soviel es ihm möglich ist, sich über alle Schriften desselben, welche zur Bildung des Urtheils ein wesentliches Moment beitragen können, sorgfältig unterrichte; aber anch das kann über die Grenzen der Möglichkeit nicht Hinaus¬ gehen. Herr Hebbel hat seine Werke in so viel verschiedene, zum Theil ganz obscure Zeitschriften verstreut, daß es geradezu unmöglich ist> sie alle zu kennen, und der Kritiker erfüllt vollständig seine Pflicht, wenn er nachträglich, sobald er zur Kenntniß derselben gelangt, die etwaigen Lücken oder unrichtigen Verhältnisse seines ersten Bildes zu ergänzen und zu berichtigen sucht. Das vollständige Urtheil über eine literarische Persönlichkeit kann erst nach dem Schluß der Acten abgegeben werden. Dieser Pflicht bin ich aufs redlichste nachgekommen, und werde so lange darin fortfahren, bis Hebbel in ein Stadium gekommen ist, wo er der Kritik nicht mehr anheimfällt. Wenn er aber von mir verlangt, ich solle mich auch um seiue Wiener Privatverhältnisse kümmern, so ist das ein wunderliches Verlangen. Seine Antikritik dreht sich vorzugsweise um den vermeintlichen Widerspruch meiner letzten Recension über ihn gegen eine frühere ans dem Jahre 1847. Dieser Widerspruch ist uicht ein objectiver, sondern ein subjectiver. In beiden ist das sehr bedeutende Talent des Dichters anerkannt und charakterisirt, in beiden ans seine Verirrungen hingewiesen, welche ihn hart an den Rand des Unsinns führen. Dagegen ist die subjective Empfindung, in der beide Recen- sionen geschrieben sind, allerdings eine sehr verschiedene. „Der Herr Schmidt von 18-47" versuchte den Eindruck, welchen ihm die erste Lectüre der drei be- deutendsten Dramen des Dichters gemacht hatte, mit jener Unbefangenheit wieder¬ zugeben, welche die ersten Aufsätze, die man für das Publicum schreibt, zu charakterisiren pflegt; er war ergriffen von der großen Anlage des Dichters und erschrocken über seine Verirrungen, er hatte die allerdings im 19. Jahrhundert

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/507>, abgerufen am 24.07.2024.