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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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ein Fortschritt bemerkbar, dem Zwischenacte ist weniger überlassen, und in der
Auswahl der Scenen, in welchen sich die allmälige Entwickelung der Situationen
darstellt, ist nicht blos die Rücksicht auf den malerischen Effect vorwiegend. Die
Anordnung der Acte u. s. w. zeugt von technischer Sicherheit. Der einzige Fehler,
den ich in dieser Beziehung hervorheben möchte, ist die Trennung des dritten und
vierten Actes, die wesentlich zusammengehören, und die nur zu Gunsten eines
episodisch eingeschobenen Tableau's von einander geschieden werden.

Eine andere Eigenthümlichkeit, die ich bereits früher hervorgehoben habe,
schließt sich an die erste. So wie die Handlung, so werden auch die Charaktere
in eine Reihe lyrischer Stimmungen aufgelöst, und es ist zu natürlich, daß ihnen
der feste Knochenbau abgeht, und daß man bei der Willkür in der Anreihung
der einen Stimmung an die andere niemals den weiteren Erfolg sicher berechnen
kann. In dieser Beziehung steht das neue Stück ganz auf der gleichen Stufe mit
den vorigen. Der Held desselben, der Dichter Bürger, ist die Wiederholung des
tyroler Bauerburschen und des Kaiser Otto, und die Situation der Heldin Dora
entspricht derjenigen, in welcher wir Deborah und Cäcilie finden.

Der geringe Erfolg, welchen das Stück im Verhältniß zu den ersten errun¬
gen hat, ist vor allen Dingen dem Umstand zuzuschreiben, daß sich diesmal die
Unsittlichkeit in der Anlage des Ganzen , die sich in den früheren Stücken hinter
allerlei Äußerlichkeiten versteckt, mit allem Selbstgefühl eines falschen Princips
in seiner vollen Nacktheit zeigt. Ich muß mich darüber etwas ausführlicher
verbreiten.

Der Conflict zwischen der Pflicht der Ehe und der Neigung des Herzens,
welche derselben widerstrebt, ist ein ästhetisch berechtigter. Weit entfernt, in der
Darstellung der Untreue eine Unsittlichkeit zu sehen, finde ich vielmehr darin
einen größeren sittlichen Ernst, zu fragen, wie denn nach der Hochzeit, mit der sonst
die Romane gewöhnlich schließen, das Verhältniß der beiden Verbundenen sich
gestaltet. Ich finde auch in der französischen Komödie, welche die Treulosigkeit frivol
behandelt, keine eigentliche Unsittlichkeit. Allerdings ist die Ehe dasjenige Insti¬
tut, auf welchem eigentlich alle Fundamente der gesellschaftlichen Ordnung beruhen,
und kauu uicht ernst genug genommen werden; aber der Betrug, der an dem
braven Georges Daudin ausgeübt wird/hat auch seine komischen Seiten, und
der Lustspieldichter ist in seinem vollen Rechte, wenn er dieselben ausbeutet; sobald
uns nur der Ernst des sittlichen Verhältnisses nicht in Erinnerung gebracht wird,
geben uns die Intriguen, Abenteuer und Verwickelungen, die sich an eine Liebes¬
affaire mit eiuer verheiratheten Frau knüpfen, Stoff genug zur Belustigung. Die
Komödie hat keineswegs die Aufgabe, deu Lehrstuhl der Moral zu ergänzen, und
bei ihr findet das Horazische Sprichwort seiue Anwendung: vulee est äesixere in
looo. Obwohl ich zugebe, daß dieser Komödienstoff anderweitig große Bedenken hat.

Aber unsittlich wird die Darstellung alsdann, wenn unter dem Scheine, es


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ein Fortschritt bemerkbar, dem Zwischenacte ist weniger überlassen, und in der
Auswahl der Scenen, in welchen sich die allmälige Entwickelung der Situationen
darstellt, ist nicht blos die Rücksicht auf den malerischen Effect vorwiegend. Die
Anordnung der Acte u. s. w. zeugt von technischer Sicherheit. Der einzige Fehler,
den ich in dieser Beziehung hervorheben möchte, ist die Trennung des dritten und
vierten Actes, die wesentlich zusammengehören, und die nur zu Gunsten eines
episodisch eingeschobenen Tableau's von einander geschieden werden.

Eine andere Eigenthümlichkeit, die ich bereits früher hervorgehoben habe,
schließt sich an die erste. So wie die Handlung, so werden auch die Charaktere
in eine Reihe lyrischer Stimmungen aufgelöst, und es ist zu natürlich, daß ihnen
der feste Knochenbau abgeht, und daß man bei der Willkür in der Anreihung
der einen Stimmung an die andere niemals den weiteren Erfolg sicher berechnen
kann. In dieser Beziehung steht das neue Stück ganz auf der gleichen Stufe mit
den vorigen. Der Held desselben, der Dichter Bürger, ist die Wiederholung des
tyroler Bauerburschen und des Kaiser Otto, und die Situation der Heldin Dora
entspricht derjenigen, in welcher wir Deborah und Cäcilie finden.

Der geringe Erfolg, welchen das Stück im Verhältniß zu den ersten errun¬
gen hat, ist vor allen Dingen dem Umstand zuzuschreiben, daß sich diesmal die
Unsittlichkeit in der Anlage des Ganzen , die sich in den früheren Stücken hinter
allerlei Äußerlichkeiten versteckt, mit allem Selbstgefühl eines falschen Princips
in seiner vollen Nacktheit zeigt. Ich muß mich darüber etwas ausführlicher
verbreiten.

Der Conflict zwischen der Pflicht der Ehe und der Neigung des Herzens,
welche derselben widerstrebt, ist ein ästhetisch berechtigter. Weit entfernt, in der
Darstellung der Untreue eine Unsittlichkeit zu sehen, finde ich vielmehr darin
einen größeren sittlichen Ernst, zu fragen, wie denn nach der Hochzeit, mit der sonst
die Romane gewöhnlich schließen, das Verhältniß der beiden Verbundenen sich
gestaltet. Ich finde auch in der französischen Komödie, welche die Treulosigkeit frivol
behandelt, keine eigentliche Unsittlichkeit. Allerdings ist die Ehe dasjenige Insti¬
tut, auf welchem eigentlich alle Fundamente der gesellschaftlichen Ordnung beruhen,
und kauu uicht ernst genug genommen werden; aber der Betrug, der an dem
braven Georges Daudin ausgeübt wird/hat auch seine komischen Seiten, und
der Lustspieldichter ist in seinem vollen Rechte, wenn er dieselben ausbeutet; sobald
uns nur der Ernst des sittlichen Verhältnisses nicht in Erinnerung gebracht wird,
geben uns die Intriguen, Abenteuer und Verwickelungen, die sich an eine Liebes¬
affaire mit eiuer verheiratheten Frau knüpfen, Stoff genug zur Belustigung. Die
Komödie hat keineswegs die Aufgabe, deu Lehrstuhl der Moral zu ergänzen, und
bei ihr findet das Horazische Sprichwort seiue Anwendung: vulee est äesixere in
looo. Obwohl ich zugebe, daß dieser Komödienstoff anderweitig große Bedenken hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/454>, abgerufen am 24.07.2024.