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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Hänger her; im Stück sieht der Senat unthätig dem Getümmel zu, in welchem
Gracchus erschlagen wird, man weiß nicht recht von wem, nachdem vorher eine
Compagnie Soldaten aufgetreten und wieder abgegangen ist, was ein ebenso
großer Verstoß gegen die dramatische Wirkung als gegen die historische Treue
ist. -- Aber es ist doch in allem Diesem Plan und Zusammenhang. Der Dichter
ist so kühn gewesen, weil sein Gegenstand ein rein politischer war, die Weiber, mit
Ausnahme einer unnöthiger Mutter ganz zu verbannen; er ist, was man mit
großem Dank aufnehmen muß, in der Nachahmung der Volksscenen aus Cäsar
und Coriolan sehr sparsam gewesen, er hat so wenig als möglich aus die Revo¬
lution von 1848 und auf deu modernen Weltschmerz angespielt.

Sodann hat er wenigstens in einem Theil seines Drama's ein entschiedenes
Talent gezeigt, eine ziemlich undramatische Begebenheit, nämlich eine Volksver¬
sammlung, durch Individualisirung dramatisch zu beleben. Es sind auch darin
wieder einige Fehler, die leicht hätten vermieden werden tonnen, z. B. wir sehen
einer Abstimmung des Volks über einen ganz bestimmten Gegenstand, über die
Absetzung eines Tribunen zu, und nachher wird uns weiß gemacht, es sei auch
über einen andern Gegenstand, über die Agrargesetze, abgestimmt worden; aber
der Kernpunkt der Handlung ist richtig getroffen. Die Entwickelung derselben,
die als blos politische Streitfrage langweilig und leer wäre, dreht sich um die
Gemüthsbewegungen in dem Charakter der beiden Tribunen und erhält dadurch
ein ganz individuelles Interesse, und Gracchus selbst, der sich in der sehr scharf
motivirten Leidenschaft zu eiuer Verletzung seines bisherigen Princips, des ge¬
setzlichen Fortschritts, verleiten läßt, begeht dadurch die Schuld, die später zu
seinem Untergang führen muß. In den folgenden Acten wird das freilich zu
wenig benutzt, zum Theil ist aber auch der Stoff schuld daran.

Der Dichter soll nie vergessen, daß wir für die dramatische Bearbeitung
eines historischen Stoffes nur so weit Theilnahme hegen, als die geschichtlichen
Ideen in dem individuellen Schicksale sich concentriren und als sie eine allgemein
menschliche, allgemein verständliche Bedeutung haben. Shakspeare's Cäsar und
Coriolan z. B. spielen zwar in Rom und bewahren so viel vom römischen Costüm,
als die Gelehrsamkeit des Shakespeare'sehen Zeitalters erlaubte, aber in einem so
allgemein menschlichen Conflicte, daß sie jedem Zeitalter gleich verständlich sein
müssen. Das ist bei Tiberius Gracchus nicht der Fall. Der Conflict kommt
auf eine Rechtsfrage heraus, nicht auf eine naturrechtliche, souderu ans eine
positiv römisch Staats- und privatrechtliche Frage, über den ager puh1ieu8 und
die Unverletzlichkeit der Tribunen, Fragen, zu deren Entscheidung nur der römisch
gebildete Jurist competent ist. Der Nichtjurist muß aus Treu und Glauben den
Aussprüchen des Mucius Scävola folgen; und daß dieser ein competenter Richter
ist, muß er eben auch uur auf Treu und Glauben annehmen, abgesehen davon,
daß auch der Jurist in einem Urtheil über so subtile Rechtsfragen irren kann.


Hänger her; im Stück sieht der Senat unthätig dem Getümmel zu, in welchem
Gracchus erschlagen wird, man weiß nicht recht von wem, nachdem vorher eine
Compagnie Soldaten aufgetreten und wieder abgegangen ist, was ein ebenso
großer Verstoß gegen die dramatische Wirkung als gegen die historische Treue
ist. — Aber es ist doch in allem Diesem Plan und Zusammenhang. Der Dichter
ist so kühn gewesen, weil sein Gegenstand ein rein politischer war, die Weiber, mit
Ausnahme einer unnöthiger Mutter ganz zu verbannen; er ist, was man mit
großem Dank aufnehmen muß, in der Nachahmung der Volksscenen aus Cäsar
und Coriolan sehr sparsam gewesen, er hat so wenig als möglich aus die Revo¬
lution von 1848 und auf deu modernen Weltschmerz angespielt.

Sodann hat er wenigstens in einem Theil seines Drama's ein entschiedenes
Talent gezeigt, eine ziemlich undramatische Begebenheit, nämlich eine Volksver¬
sammlung, durch Individualisirung dramatisch zu beleben. Es sind auch darin
wieder einige Fehler, die leicht hätten vermieden werden tonnen, z. B. wir sehen
einer Abstimmung des Volks über einen ganz bestimmten Gegenstand, über die
Absetzung eines Tribunen zu, und nachher wird uns weiß gemacht, es sei auch
über einen andern Gegenstand, über die Agrargesetze, abgestimmt worden; aber
der Kernpunkt der Handlung ist richtig getroffen. Die Entwickelung derselben,
die als blos politische Streitfrage langweilig und leer wäre, dreht sich um die
Gemüthsbewegungen in dem Charakter der beiden Tribunen und erhält dadurch
ein ganz individuelles Interesse, und Gracchus selbst, der sich in der sehr scharf
motivirten Leidenschaft zu eiuer Verletzung seines bisherigen Princips, des ge¬
setzlichen Fortschritts, verleiten läßt, begeht dadurch die Schuld, die später zu
seinem Untergang führen muß. In den folgenden Acten wird das freilich zu
wenig benutzt, zum Theil ist aber auch der Stoff schuld daran.

Der Dichter soll nie vergessen, daß wir für die dramatische Bearbeitung
eines historischen Stoffes nur so weit Theilnahme hegen, als die geschichtlichen
Ideen in dem individuellen Schicksale sich concentriren und als sie eine allgemein
menschliche, allgemein verständliche Bedeutung haben. Shakspeare's Cäsar und
Coriolan z. B. spielen zwar in Rom und bewahren so viel vom römischen Costüm,
als die Gelehrsamkeit des Shakespeare'sehen Zeitalters erlaubte, aber in einem so
allgemein menschlichen Conflicte, daß sie jedem Zeitalter gleich verständlich sein
müssen. Das ist bei Tiberius Gracchus nicht der Fall. Der Conflict kommt
auf eine Rechtsfrage heraus, nicht auf eine naturrechtliche, souderu ans eine
positiv römisch Staats- und privatrechtliche Frage, über den ager puh1ieu8 und
die Unverletzlichkeit der Tribunen, Fragen, zu deren Entscheidung nur der römisch
gebildete Jurist competent ist. Der Nichtjurist muß aus Treu und Glauben den
Aussprüchen des Mucius Scävola folgen; und daß dieser ein competenter Richter
ist, muß er eben auch uur auf Treu und Glauben annehmen, abgesehen davon,
daß auch der Jurist in einem Urtheil über so subtile Rechtsfragen irren kann.


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[0419] Hänger her; im Stück sieht der Senat unthätig dem Getümmel zu, in welchem Gracchus erschlagen wird, man weiß nicht recht von wem, nachdem vorher eine Compagnie Soldaten aufgetreten und wieder abgegangen ist, was ein ebenso großer Verstoß gegen die dramatische Wirkung als gegen die historische Treue ist. — Aber es ist doch in allem Diesem Plan und Zusammenhang. Der Dichter ist so kühn gewesen, weil sein Gegenstand ein rein politischer war, die Weiber, mit Ausnahme einer unnöthiger Mutter ganz zu verbannen; er ist, was man mit großem Dank aufnehmen muß, in der Nachahmung der Volksscenen aus Cäsar und Coriolan sehr sparsam gewesen, er hat so wenig als möglich aus die Revo¬ lution von 1848 und auf deu modernen Weltschmerz angespielt. Sodann hat er wenigstens in einem Theil seines Drama's ein entschiedenes Talent gezeigt, eine ziemlich undramatische Begebenheit, nämlich eine Volksver¬ sammlung, durch Individualisirung dramatisch zu beleben. Es sind auch darin wieder einige Fehler, die leicht hätten vermieden werden tonnen, z. B. wir sehen einer Abstimmung des Volks über einen ganz bestimmten Gegenstand, über die Absetzung eines Tribunen zu, und nachher wird uns weiß gemacht, es sei auch über einen andern Gegenstand, über die Agrargesetze, abgestimmt worden; aber der Kernpunkt der Handlung ist richtig getroffen. Die Entwickelung derselben, die als blos politische Streitfrage langweilig und leer wäre, dreht sich um die Gemüthsbewegungen in dem Charakter der beiden Tribunen und erhält dadurch ein ganz individuelles Interesse, und Gracchus selbst, der sich in der sehr scharf motivirten Leidenschaft zu eiuer Verletzung seines bisherigen Princips, des ge¬ setzlichen Fortschritts, verleiten läßt, begeht dadurch die Schuld, die später zu seinem Untergang führen muß. In den folgenden Acten wird das freilich zu wenig benutzt, zum Theil ist aber auch der Stoff schuld daran. Der Dichter soll nie vergessen, daß wir für die dramatische Bearbeitung eines historischen Stoffes nur so weit Theilnahme hegen, als die geschichtlichen Ideen in dem individuellen Schicksale sich concentriren und als sie eine allgemein menschliche, allgemein verständliche Bedeutung haben. Shakspeare's Cäsar und Coriolan z. B. spielen zwar in Rom und bewahren so viel vom römischen Costüm, als die Gelehrsamkeit des Shakespeare'sehen Zeitalters erlaubte, aber in einem so allgemein menschlichen Conflicte, daß sie jedem Zeitalter gleich verständlich sein müssen. Das ist bei Tiberius Gracchus nicht der Fall. Der Conflict kommt auf eine Rechtsfrage heraus, nicht auf eine naturrechtliche, souderu ans eine positiv römisch Staats- und privatrechtliche Frage, über den ager puh1ieu8 und die Unverletzlichkeit der Tribunen, Fragen, zu deren Entscheidung nur der römisch gebildete Jurist competent ist. Der Nichtjurist muß aus Treu und Glauben den Aussprüchen des Mucius Scävola folgen; und daß dieser ein competenter Richter ist, muß er eben auch uur auf Treu und Glauben annehmen, abgesehen davon, daß auch der Jurist in einem Urtheil über so subtile Rechtsfragen irren kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/419>, abgerufen am 24.07.2024.