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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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der aufopfernden Arbeit, die ohne allen Anschein von Poesie einem starken und
gefühlvollen Menschen den höchsten Adel' verleiht. Wir haben beide Personen
bereits in der Jndiana vorgefunden. Es ist Raymon de Namiere und Raif
Vrown, aber sie sind hier mit einer ungleich größeren Tiefe dargestellt, und der
Kampf gegen den hohlen Idealismus, der in jenen frühern Versuchen noch selber
einen stark phantastischen Anstrich hatte, wird hier mit der vollen Siegesgewißheit
einer reifen Bildung aufgenommen.

Eine neue Reihe eröffnet der folgende Roman: der Handwerksbursche
auf der Wanderschaft (le compagnon co our ac Kranes). Es beginnen
Mit ihm die socialistischen Tendenzen Georges Sand's; eine neue Unklarheit, die
ebenso überwunden werden muß, wie früher die irrationeller Ansichten über Ehe
und Liebe. Die Schilderung der ganz eigenthümlichen Verhältnisse, aus denen
die Gesellenverbindungen in Frankreich zusammengesetzt siud, mit ihrer halb mystisch¬
romantischen, halb praktischen Bedeutung, ist musterhaft und hat zu einer Reihe
von ähnlichen Versuchen geführt, z. B. in Eugen Sue's "ewigem Juden," von
denen aber keiner seinem Vorbild gleichkommt. Ebenso vortrefflich und in sehr
Poetischen Contrast zeichnet sich die vornehme Welt diesen idyllischen Figuren
gegenüber ab. Der Nahmen, welcher das ganze Gemälde umgibt, ist ebenso zierlich
und kunstreich, wie man es in Göthe's Novellen findet; dagegen zeugt die sittliche,
oder wenn man will, politische Tendenz von einer großen Unreife. Der Roman
bestrebt sich, den Liberalismus im Bürgerstande und namentlich in dem freisinnigen
Adel lächerlich zu macheu, und er glaubt dies unter Andern dadurch zu erreichen,
daß er den Grafen Villepreux, der sonst ziemlich frei von allen Vorurtheilen ist,
und für das Wohl seiner Untergebenen wie für die vernünftige Entwickelung
des Staats mit ebenso viel Verstand als .Energie besorgt ist, im entscheidenden
Augenblick dem schlimmsten Vorurtheil verfallen läßt. Er versagt nämlich die
Hand seüler Tochter einem Zimmermann, der dieselbe liebt. Damit ist er als
kalter, herzloser Egoist und als halber Charakter der öffentlichen Verachtung preis¬
gegeben, während es ihm die Liebenden eigentlich nur Dank wissen sollten, daß
er ihre Verbindung hintertrieben hat; denn der neue Ehemann würde entweder
die ganze Ehe hindurch vor seiner Gemahlin ans den Knieen liegen, was eine
höchst unzweckmäßige Stellung ist, oder er würde sie bald mit jenem Mistrauen
ansehen, das anch die besten Naturen nicht verleugnen können, wenn sie mit einer
überlegenen Bildung zu thun haben. Es geht Georges Sand wie Jean Paul;
so lange sie wirkliche Menschen schildert, die sie mit scharfem Ange beobachtet hat,
und mit ihrer hohen Poesie idealisirt, bewegen wir uns ans dem Gebiet der echten
Kunst; wenn sie aber Ideale schildern will, für die gar kein Gegellbild vorhanden
ist, als die dunkle Träumerei vou einem Reich der Zukunft, das matt sich nach
Belieben vorstellen kann, so werden Schemen daraus. Die beideu idealen Figuren
dieses Romans, Usolde und Pierre Hngnenin, erscheinen um so mehr als leere


der aufopfernden Arbeit, die ohne allen Anschein von Poesie einem starken und
gefühlvollen Menschen den höchsten Adel' verleiht. Wir haben beide Personen
bereits in der Jndiana vorgefunden. Es ist Raymon de Namiere und Raif
Vrown, aber sie sind hier mit einer ungleich größeren Tiefe dargestellt, und der
Kampf gegen den hohlen Idealismus, der in jenen frühern Versuchen noch selber
einen stark phantastischen Anstrich hatte, wird hier mit der vollen Siegesgewißheit
einer reifen Bildung aufgenommen.

Eine neue Reihe eröffnet der folgende Roman: der Handwerksbursche
auf der Wanderschaft (le compagnon co our ac Kranes). Es beginnen
Mit ihm die socialistischen Tendenzen Georges Sand's; eine neue Unklarheit, die
ebenso überwunden werden muß, wie früher die irrationeller Ansichten über Ehe
und Liebe. Die Schilderung der ganz eigenthümlichen Verhältnisse, aus denen
die Gesellenverbindungen in Frankreich zusammengesetzt siud, mit ihrer halb mystisch¬
romantischen, halb praktischen Bedeutung, ist musterhaft und hat zu einer Reihe
von ähnlichen Versuchen geführt, z. B. in Eugen Sue's „ewigem Juden," von
denen aber keiner seinem Vorbild gleichkommt. Ebenso vortrefflich und in sehr
Poetischen Contrast zeichnet sich die vornehme Welt diesen idyllischen Figuren
gegenüber ab. Der Nahmen, welcher das ganze Gemälde umgibt, ist ebenso zierlich
und kunstreich, wie man es in Göthe's Novellen findet; dagegen zeugt die sittliche,
oder wenn man will, politische Tendenz von einer großen Unreife. Der Roman
bestrebt sich, den Liberalismus im Bürgerstande und namentlich in dem freisinnigen
Adel lächerlich zu macheu, und er glaubt dies unter Andern dadurch zu erreichen,
daß er den Grafen Villepreux, der sonst ziemlich frei von allen Vorurtheilen ist,
und für das Wohl seiner Untergebenen wie für die vernünftige Entwickelung
des Staats mit ebenso viel Verstand als .Energie besorgt ist, im entscheidenden
Augenblick dem schlimmsten Vorurtheil verfallen läßt. Er versagt nämlich die
Hand seüler Tochter einem Zimmermann, der dieselbe liebt. Damit ist er als
kalter, herzloser Egoist und als halber Charakter der öffentlichen Verachtung preis¬
gegeben, während es ihm die Liebenden eigentlich nur Dank wissen sollten, daß
er ihre Verbindung hintertrieben hat; denn der neue Ehemann würde entweder
die ganze Ehe hindurch vor seiner Gemahlin ans den Knieen liegen, was eine
höchst unzweckmäßige Stellung ist, oder er würde sie bald mit jenem Mistrauen
ansehen, das anch die besten Naturen nicht verleugnen können, wenn sie mit einer
überlegenen Bildung zu thun haben. Es geht Georges Sand wie Jean Paul;
so lange sie wirkliche Menschen schildert, die sie mit scharfem Ange beobachtet hat,
und mit ihrer hohen Poesie idealisirt, bewegen wir uns ans dem Gebiet der echten
Kunst; wenn sie aber Ideale schildern will, für die gar kein Gegellbild vorhanden
ist, als die dunkle Träumerei vou einem Reich der Zukunft, das matt sich nach
Belieben vorstellen kann, so werden Schemen daraus. Die beideu idealen Figuren
dieses Romans, Usolde und Pierre Hngnenin, erscheinen um so mehr als leere


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/387>, abgerufen am 24.07.2024.