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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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die Göttinnen natürlich in ihrer mythologischen Gewandung. Das Thema gehört
ganz derjenigen Tradition an, welche sich in enger Nachahmung an das antike
Schönheitsgesetz nicht allein, sondern anch an die hergebrachte Erscheinungsform
desselben anschließt. In dieser Tradition sind denn auch die meisten darnach ans-'
geführten Gruppen gehalten: eine allgemein stilisirte nackte Jünglingsgestalt, neben
ihr eine Göttin, welche den Schüler und Schützling um einige Zoll überragt, an
letzterer mehr oder minder reich oder geschmackvoll geordneter Faltenwurf, zwischen
Beiden nur die ganz äußerliche Beziehung des Thema's, dessen Gedankenleben in
der mythologischen Allegorie stecken blieb. Nur eines der Werke erhebt sich über
diese traditionelle Allegorie: die Viktoria von Drake.

Das griechische Alterthum hat in seinen Bildwerken ewige Vorbilder plastischer
Schönheit hinterlassen. Es fragt sich nnr, wie sollen diese Vorbilder von dem
lebenden Künstler benutzt werden? Der Schüler, der Lernende ahme sie nach,
aber der schaffende Künstler, der Meister begreife an ihnen den innern Zusammen¬
hang mit griechischem Leben und griechischer Bildung, welche das Menschliche in
seinem allgemein menschlichen Wesen vergötterte nud so in theils allgemeinerer,
theils erhabenerer Form darzustellen unternahm. Neben den Götterbildern in
menschlicher Gestalt entstand sodann eine zweite Richtung der Sculptur in der
Abbildung von Heroen, Siegern im Kampfe und im olympischen Spiele und an¬
deren großen Persönlichkeiten, eine Richtung, die aus dem Mythischen in das
Historische trat. Jene erste religiöse Tendenz, welche die wirkliche, lebendige
menschliche Gestalt zum Götterbilde, zum Gefäß eines übermenschlichen Inhalts
machte, hat den positiven Boden unter ihren Füßen verloren, sie ist in ihrer tra¬
ditionellen Uebung nur eine Negation der Gegenwart. Für uns liegt das Gött¬
liche, ewig Wahre des menschlichen Wesens uicht vor allem Leben und aller
Geschichte, ist es uicht ein plastisch Abgeschlossenes, sondern als ein ewig Werden¬
des in den Strom der Geschichte gerissen. Für uns ist daher die wirkliche,
lebendige menschliche Gestalt nur die höchste und edelste Form, in welcher sich die
bildende Kraft der Natur zur Erscheinung bringt, und in diesem Sinne wird die
nackte menschliche Schönheit ewig ein edles Ziel plastischer Darstellung und die
Antike in ihrer Keuschheit und Grazie dem Künstler ein ewiges Vorbild sein.
Aber wo es sich nur um diese Gestalt als solche oder um noch Aenßcrlicheres,
etwa um eine schöne Gewandung, handelt, ohne daß ein historisch realer, historisch
bedeutender Inhalt diese Formen erfüllt, da will uns hente der kolossale Maßstab
nicht mehr geeignet erscheinen, weil der äußern Massenhaftigkeit der wirkliche Ge¬
dankenfond des darzustellenden Gegenstandes nicht entspricht. Der kolossale Ma߬
stab ist hente uur uoch im großen historischen Stile anwendbar, wo es sich um
Denkmale geschichtlich bedeutender Momente und Persönlichkeiten handelt. Was
wir in Bezug auf jene allgemeine und verallgemeinernde Richtung der Formschön¬
heit gegen das Alterthum einzubüßen scheinen, gewinnen wir hundertfältig wieder


die Göttinnen natürlich in ihrer mythologischen Gewandung. Das Thema gehört
ganz derjenigen Tradition an, welche sich in enger Nachahmung an das antike
Schönheitsgesetz nicht allein, sondern anch an die hergebrachte Erscheinungsform
desselben anschließt. In dieser Tradition sind denn auch die meisten darnach ans-'
geführten Gruppen gehalten: eine allgemein stilisirte nackte Jünglingsgestalt, neben
ihr eine Göttin, welche den Schüler und Schützling um einige Zoll überragt, an
letzterer mehr oder minder reich oder geschmackvoll geordneter Faltenwurf, zwischen
Beiden nur die ganz äußerliche Beziehung des Thema's, dessen Gedankenleben in
der mythologischen Allegorie stecken blieb. Nur eines der Werke erhebt sich über
diese traditionelle Allegorie: die Viktoria von Drake.

Das griechische Alterthum hat in seinen Bildwerken ewige Vorbilder plastischer
Schönheit hinterlassen. Es fragt sich nnr, wie sollen diese Vorbilder von dem
lebenden Künstler benutzt werden? Der Schüler, der Lernende ahme sie nach,
aber der schaffende Künstler, der Meister begreife an ihnen den innern Zusammen¬
hang mit griechischem Leben und griechischer Bildung, welche das Menschliche in
seinem allgemein menschlichen Wesen vergötterte nud so in theils allgemeinerer,
theils erhabenerer Form darzustellen unternahm. Neben den Götterbildern in
menschlicher Gestalt entstand sodann eine zweite Richtung der Sculptur in der
Abbildung von Heroen, Siegern im Kampfe und im olympischen Spiele und an¬
deren großen Persönlichkeiten, eine Richtung, die aus dem Mythischen in das
Historische trat. Jene erste religiöse Tendenz, welche die wirkliche, lebendige
menschliche Gestalt zum Götterbilde, zum Gefäß eines übermenschlichen Inhalts
machte, hat den positiven Boden unter ihren Füßen verloren, sie ist in ihrer tra¬
ditionellen Uebung nur eine Negation der Gegenwart. Für uns liegt das Gött¬
liche, ewig Wahre des menschlichen Wesens uicht vor allem Leben und aller
Geschichte, ist es uicht ein plastisch Abgeschlossenes, sondern als ein ewig Werden¬
des in den Strom der Geschichte gerissen. Für uns ist daher die wirkliche,
lebendige menschliche Gestalt nur die höchste und edelste Form, in welcher sich die
bildende Kraft der Natur zur Erscheinung bringt, und in diesem Sinne wird die
nackte menschliche Schönheit ewig ein edles Ziel plastischer Darstellung und die
Antike in ihrer Keuschheit und Grazie dem Künstler ein ewiges Vorbild sein.
Aber wo es sich nur um diese Gestalt als solche oder um noch Aenßcrlicheres,
etwa um eine schöne Gewandung, handelt, ohne daß ein historisch realer, historisch
bedeutender Inhalt diese Formen erfüllt, da will uns hente der kolossale Maßstab
nicht mehr geeignet erscheinen, weil der äußern Massenhaftigkeit der wirkliche Ge¬
dankenfond des darzustellenden Gegenstandes nicht entspricht. Der kolossale Ma߬
stab ist hente uur uoch im großen historischen Stile anwendbar, wo es sich um
Denkmale geschichtlich bedeutender Momente und Persönlichkeiten handelt. Was
wir in Bezug auf jene allgemeine und verallgemeinernde Richtung der Formschön¬
heit gegen das Alterthum einzubüßen scheinen, gewinnen wir hundertfältig wieder


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[0377] die Göttinnen natürlich in ihrer mythologischen Gewandung. Das Thema gehört ganz derjenigen Tradition an, welche sich in enger Nachahmung an das antike Schönheitsgesetz nicht allein, sondern anch an die hergebrachte Erscheinungsform desselben anschließt. In dieser Tradition sind denn auch die meisten darnach ans-' geführten Gruppen gehalten: eine allgemein stilisirte nackte Jünglingsgestalt, neben ihr eine Göttin, welche den Schüler und Schützling um einige Zoll überragt, an letzterer mehr oder minder reich oder geschmackvoll geordneter Faltenwurf, zwischen Beiden nur die ganz äußerliche Beziehung des Thema's, dessen Gedankenleben in der mythologischen Allegorie stecken blieb. Nur eines der Werke erhebt sich über diese traditionelle Allegorie: die Viktoria von Drake. Das griechische Alterthum hat in seinen Bildwerken ewige Vorbilder plastischer Schönheit hinterlassen. Es fragt sich nnr, wie sollen diese Vorbilder von dem lebenden Künstler benutzt werden? Der Schüler, der Lernende ahme sie nach, aber der schaffende Künstler, der Meister begreife an ihnen den innern Zusammen¬ hang mit griechischem Leben und griechischer Bildung, welche das Menschliche in seinem allgemein menschlichen Wesen vergötterte nud so in theils allgemeinerer, theils erhabenerer Form darzustellen unternahm. Neben den Götterbildern in menschlicher Gestalt entstand sodann eine zweite Richtung der Sculptur in der Abbildung von Heroen, Siegern im Kampfe und im olympischen Spiele und an¬ deren großen Persönlichkeiten, eine Richtung, die aus dem Mythischen in das Historische trat. Jene erste religiöse Tendenz, welche die wirkliche, lebendige menschliche Gestalt zum Götterbilde, zum Gefäß eines übermenschlichen Inhalts machte, hat den positiven Boden unter ihren Füßen verloren, sie ist in ihrer tra¬ ditionellen Uebung nur eine Negation der Gegenwart. Für uns liegt das Gött¬ liche, ewig Wahre des menschlichen Wesens uicht vor allem Leben und aller Geschichte, ist es uicht ein plastisch Abgeschlossenes, sondern als ein ewig Werden¬ des in den Strom der Geschichte gerissen. Für uns ist daher die wirkliche, lebendige menschliche Gestalt nur die höchste und edelste Form, in welcher sich die bildende Kraft der Natur zur Erscheinung bringt, und in diesem Sinne wird die nackte menschliche Schönheit ewig ein edles Ziel plastischer Darstellung und die Antike in ihrer Keuschheit und Grazie dem Künstler ein ewiges Vorbild sein. Aber wo es sich nur um diese Gestalt als solche oder um noch Aenßcrlicheres, etwa um eine schöne Gewandung, handelt, ohne daß ein historisch realer, historisch bedeutender Inhalt diese Formen erfüllt, da will uns hente der kolossale Maßstab nicht mehr geeignet erscheinen, weil der äußern Massenhaftigkeit der wirkliche Ge¬ dankenfond des darzustellenden Gegenstandes nicht entspricht. Der kolossale Ma߬ stab ist hente uur uoch im großen historischen Stile anwendbar, wo es sich um Denkmale geschichtlich bedeutender Momente und Persönlichkeiten handelt. Was wir in Bezug auf jene allgemeine und verallgemeinernde Richtung der Formschön¬ heit gegen das Alterthum einzubüßen scheinen, gewinnen wir hundertfältig wieder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/377>, abgerufen am 24.07.2024.