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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Ich will nebenbei bemerken, daß diese wunderbare Liebe zu lasterhaften
Menschen ein Lieblingsgegenstand der französischen Phantasie gewesen ist. Die
Manon Lescaut des Abb" Prevost ist das Gegenbild zu Leone Leoni, freilich naiv
geschrieben, uicht mit der glühenden Leidenschaft G. Sand's. Auch Moliere's
Misanthrop gehört in diese Reihe, obgleich der gesunde Menschenverstand des
Lustspieldichters so grenzenlose Verirrungen unmöglich macht. Daß es in der
neueren Romantik, von V. Hugo bis zu Dumas, zu den Hauptproblemen gehört,
versteht sich von selbst. Wer nicht in jedem Augenblick bereit ist, um seiner ge¬
liebten Tänzerin willen Schande und Schmach ans sich zu nehmen, kann gar nicht
mitreden. --

Worin lag nnn, bei allen diesen Thorheiten, der gewaltige Zauber, den
G. Sand gerade mit diesen ersten Werken ausübte? -- Davon das nächstemal.


^. 8.


Der deutsche Mannergesang in seiner künstlerischen
Ausbildung

Der mehrstimmige Männergesang, als höhere Kunstform der frühern Jahr¬
hunderte ganz unbekannt, begann erst in den letzten Jahrzehnten des vorigelt
Secnlums zu Kraft und Ansehn zu kommen und gedieh zu seiner außerordent¬
lichen Blüthe erst seit dem Jahre 181:;. Vor diesen Zeiten taucht er nur in
sehr weiten Zwischenräumen auf, niemals in der Gestalt selbstständiger, mit
andern Mitteln unterstützter Musikstücke, sondern nnr hier und da in geistlicher
Musik, in Oratorien und Opern; bei letzteren, wenn es gerade der Gang des
Drama's verlangte, daß die Führung des Chors den Männerstimmen allein an¬
vertraut wurde. Aber auch in diesen Fällen erscheint er in der einfachsten Setzart,
fast immer dreistimmig; man hielt es nicht für rathsam und zweckmäßig, die Har¬
monie an vier so nahe an einander liegende Stimmen zu binden: die Durch¬
sichtigkeit des harmonischen Gebäudes müsse dadurch Schaden leiden; noch weniger
sei es möglich, die Stimmen auf eine künstlerische, contrapnnktische Weise zu
führen, da sie sich untereinander verlaufen und ohne Zweifel Undentlichkeit ver¬
ursachen müßten. Ebenso behandelte man den Franengesang. Man strebte hierin
sogar nach einer noch größern Einfachheit, indem man ihn oft nnr zweistimmig
setzte, ein Verfahren, welches dadurch gerechtfertigt erscheint, daß tiefere weibliche
Stimmen zu deu selteneren Erscheinungen gehören, und daß sie außerdem in
ihrer Anwendung bei Frauenchören mit Orchesterbegleitung fast unhörbar werden.
Die Italiener und Franzosen haben die obenerwähnte Behandlung der Männer¬
chöre bis aus den heutigen Tag beibehalten, weniger aus Princip, als in alther-


Ich will nebenbei bemerken, daß diese wunderbare Liebe zu lasterhaften
Menschen ein Lieblingsgegenstand der französischen Phantasie gewesen ist. Die
Manon Lescaut des Abb« Prevost ist das Gegenbild zu Leone Leoni, freilich naiv
geschrieben, uicht mit der glühenden Leidenschaft G. Sand's. Auch Moliere's
Misanthrop gehört in diese Reihe, obgleich der gesunde Menschenverstand des
Lustspieldichters so grenzenlose Verirrungen unmöglich macht. Daß es in der
neueren Romantik, von V. Hugo bis zu Dumas, zu den Hauptproblemen gehört,
versteht sich von selbst. Wer nicht in jedem Augenblick bereit ist, um seiner ge¬
liebten Tänzerin willen Schande und Schmach ans sich zu nehmen, kann gar nicht
mitreden. —

Worin lag nnn, bei allen diesen Thorheiten, der gewaltige Zauber, den
G. Sand gerade mit diesen ersten Werken ausübte? — Davon das nächstemal.


^. 8.


Der deutsche Mannergesang in seiner künstlerischen
Ausbildung

Der mehrstimmige Männergesang, als höhere Kunstform der frühern Jahr¬
hunderte ganz unbekannt, begann erst in den letzten Jahrzehnten des vorigelt
Secnlums zu Kraft und Ansehn zu kommen und gedieh zu seiner außerordent¬
lichen Blüthe erst seit dem Jahre 181:;. Vor diesen Zeiten taucht er nur in
sehr weiten Zwischenräumen auf, niemals in der Gestalt selbstständiger, mit
andern Mitteln unterstützter Musikstücke, sondern nnr hier und da in geistlicher
Musik, in Oratorien und Opern; bei letzteren, wenn es gerade der Gang des
Drama's verlangte, daß die Führung des Chors den Männerstimmen allein an¬
vertraut wurde. Aber auch in diesen Fällen erscheint er in der einfachsten Setzart,
fast immer dreistimmig; man hielt es nicht für rathsam und zweckmäßig, die Har¬
monie an vier so nahe an einander liegende Stimmen zu binden: die Durch¬
sichtigkeit des harmonischen Gebäudes müsse dadurch Schaden leiden; noch weniger
sei es möglich, die Stimmen auf eine künstlerische, contrapnnktische Weise zu
führen, da sie sich untereinander verlaufen und ohne Zweifel Undentlichkeit ver¬
ursachen müßten. Ebenso behandelte man den Franengesang. Man strebte hierin
sogar nach einer noch größern Einfachheit, indem man ihn oft nnr zweistimmig
setzte, ein Verfahren, welches dadurch gerechtfertigt erscheint, daß tiefere weibliche
Stimmen zu deu selteneren Erscheinungen gehören, und daß sie außerdem in
ihrer Anwendung bei Frauenchören mit Orchesterbegleitung fast unhörbar werden.
Die Italiener und Franzosen haben die obenerwähnte Behandlung der Männer¬
chöre bis aus den heutigen Tag beibehalten, weniger aus Princip, als in alther-


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[0347] Ich will nebenbei bemerken, daß diese wunderbare Liebe zu lasterhaften Menschen ein Lieblingsgegenstand der französischen Phantasie gewesen ist. Die Manon Lescaut des Abb« Prevost ist das Gegenbild zu Leone Leoni, freilich naiv geschrieben, uicht mit der glühenden Leidenschaft G. Sand's. Auch Moliere's Misanthrop gehört in diese Reihe, obgleich der gesunde Menschenverstand des Lustspieldichters so grenzenlose Verirrungen unmöglich macht. Daß es in der neueren Romantik, von V. Hugo bis zu Dumas, zu den Hauptproblemen gehört, versteht sich von selbst. Wer nicht in jedem Augenblick bereit ist, um seiner ge¬ liebten Tänzerin willen Schande und Schmach ans sich zu nehmen, kann gar nicht mitreden. — Worin lag nnn, bei allen diesen Thorheiten, der gewaltige Zauber, den G. Sand gerade mit diesen ersten Werken ausübte? — Davon das nächstemal. ^. 8. Der deutsche Mannergesang in seiner künstlerischen Ausbildung Der mehrstimmige Männergesang, als höhere Kunstform der frühern Jahr¬ hunderte ganz unbekannt, begann erst in den letzten Jahrzehnten des vorigelt Secnlums zu Kraft und Ansehn zu kommen und gedieh zu seiner außerordent¬ lichen Blüthe erst seit dem Jahre 181:;. Vor diesen Zeiten taucht er nur in sehr weiten Zwischenräumen auf, niemals in der Gestalt selbstständiger, mit andern Mitteln unterstützter Musikstücke, sondern nnr hier und da in geistlicher Musik, in Oratorien und Opern; bei letzteren, wenn es gerade der Gang des Drama's verlangte, daß die Führung des Chors den Männerstimmen allein an¬ vertraut wurde. Aber auch in diesen Fällen erscheint er in der einfachsten Setzart, fast immer dreistimmig; man hielt es nicht für rathsam und zweckmäßig, die Har¬ monie an vier so nahe an einander liegende Stimmen zu binden: die Durch¬ sichtigkeit des harmonischen Gebäudes müsse dadurch Schaden leiden; noch weniger sei es möglich, die Stimmen auf eine künstlerische, contrapnnktische Weise zu führen, da sie sich untereinander verlaufen und ohne Zweifel Undentlichkeit ver¬ ursachen müßten. Ebenso behandelte man den Franengesang. Man strebte hierin sogar nach einer noch größern Einfachheit, indem man ihn oft nnr zweistimmig setzte, ein Verfahren, welches dadurch gerechtfertigt erscheint, daß tiefere weibliche Stimmen zu deu selteneren Erscheinungen gehören, und daß sie außerdem in ihrer Anwendung bei Frauenchören mit Orchesterbegleitung fast unhörbar werden. Die Italiener und Franzosen haben die obenerwähnte Behandlung der Männer¬ chöre bis aus den heutigen Tag beibehalten, weniger aus Princip, als in alther-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/347>, abgerufen am 24.07.2024.