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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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nicht befremdet, mußte die Italiener und Franzosen des vorigen Jahrhunderts, die
in der Oper nichts Anders zu sehen gewohnt waren, als eine Gelegenheit für
glänzende Stimmen, ihre Bravour und Technik zu zeigen, anßer Fassung setzen.
Indessen durfte Gluck mit seiner Charakteristik viel weniger aus der lyrischen
Natur der Musik heraustreten, als seine Nachahmer, weil seine Gegenstände sehr
einfach waren, und in seinen Mitteln die strengste Oekonomie beobachtet wurde.

Der zweite Grundsatz war die Nothwendigkeit einer künstlerischen Einheit in
der Oper, in der Art, wie sie im Oratorium und in der Symphonie wirklich
vorhanden ist. Die Oper sollte nicht eine Mosaikarbeit aus einzelnen Arien sein,
welche dnrch den gesprochenen Dialog oder das unrhythmische Recitativ lose an¬
einandergeheftet wären, sondern ein mit Nothwendigkeit zusammenhängendes Ganze,
in einem gleichmäßigen Styl geschrieben und nach dem Gesetz der künstlerischen
Steigerung geordnet. Ob das Princip an sich richtig ist, lassen wir hier-dahin¬
gestellt, weil uoch heute darum gekämpst wird. Jedenfalls setzt die Ausführung
desselben einen Text voraus, der bereits uach diesem Princip gearbeitet ist.
Eine novellistische Detaillirung der einzelnen Begebenheiten, wie sie das moderne
Libretto fast überall gibt, macht das rhythmische Recitativ unerträglich, und die
Breite der Handlung würde schon wegen der Zeit, die sie in Anspruch nimmt,
eine einheitliche Haltung verbieten. Der Glück'sche Operntext ist kurz und bewegt
sich in klaren, übersichtlichen Gängen, wie das classische Drama.

Wenn also Spontini das Princip seines Meisters in jenen beiden Grund¬
sätzen wieder zur Geltung brachte, so trug er doch ein neues Moment hinein,
wodurch dasselbe fast in sein Gegentheil verkehrt wurde, nämlich die Massenwir-
kung und die Poesie 0es Kontrastes.

Die Jnstrumentation ist bei Gluck von einer wunderbaren Schönheit, aber
zugleich so bescheiden, daß unser verwöhntes Ohr Fülle darin vermißt, daß man
in neueren Aufführungen versucht hat, sie voller zu machen. -- Spontini war
der Erste, der jenen Sturm der Instrumentirung einführte, der schon durch seine
physische Macht ergreift. Dazu gehört die ausgedehntere Anwendung der Blas¬
instrumente, der Pauke, namentlich aber das Zusammenraffen aller Instrumente
in ihrer vollen Kraft zu plötzlichen, überwältigenden Wirkungen. Die Anekdote
von jenem Berliner ist bekannt, der, um sich vor dem Lärm der Spontini'schen Oper
zu retten, den Zapfenstreich anhörte, und sich über diese ruhige, sanfte Musik freute.
Die Sache ist nicht unrichtig. Zwar wird im Zapfenstreich der Lärm größer sein,
wenn man ihn als Ganzes gegen die Oper abwägt; aber es ist ein solider, gleich¬
mäßiger Lärm, den man nicht mehr merkt, wenn man daran gewöhnt ist: in der
Oper wird er durch die Gewalt des Contrastes erhöht.

Von Seiten der strengen, ich möchte sagen jüngferlichen Kunst hat man
gegen diese Verwendung der physischen Naturgewalt zu künstlerischen Zwecken sehr
lebhaft geeifert, aber mit uicht ganz stichhaltigen Gründen. Die Kammermusik


nicht befremdet, mußte die Italiener und Franzosen des vorigen Jahrhunderts, die
in der Oper nichts Anders zu sehen gewohnt waren, als eine Gelegenheit für
glänzende Stimmen, ihre Bravour und Technik zu zeigen, anßer Fassung setzen.
Indessen durfte Gluck mit seiner Charakteristik viel weniger aus der lyrischen
Natur der Musik heraustreten, als seine Nachahmer, weil seine Gegenstände sehr
einfach waren, und in seinen Mitteln die strengste Oekonomie beobachtet wurde.

Der zweite Grundsatz war die Nothwendigkeit einer künstlerischen Einheit in
der Oper, in der Art, wie sie im Oratorium und in der Symphonie wirklich
vorhanden ist. Die Oper sollte nicht eine Mosaikarbeit aus einzelnen Arien sein,
welche dnrch den gesprochenen Dialog oder das unrhythmische Recitativ lose an¬
einandergeheftet wären, sondern ein mit Nothwendigkeit zusammenhängendes Ganze,
in einem gleichmäßigen Styl geschrieben und nach dem Gesetz der künstlerischen
Steigerung geordnet. Ob das Princip an sich richtig ist, lassen wir hier-dahin¬
gestellt, weil uoch heute darum gekämpst wird. Jedenfalls setzt die Ausführung
desselben einen Text voraus, der bereits uach diesem Princip gearbeitet ist.
Eine novellistische Detaillirung der einzelnen Begebenheiten, wie sie das moderne
Libretto fast überall gibt, macht das rhythmische Recitativ unerträglich, und die
Breite der Handlung würde schon wegen der Zeit, die sie in Anspruch nimmt,
eine einheitliche Haltung verbieten. Der Glück'sche Operntext ist kurz und bewegt
sich in klaren, übersichtlichen Gängen, wie das classische Drama.

Wenn also Spontini das Princip seines Meisters in jenen beiden Grund¬
sätzen wieder zur Geltung brachte, so trug er doch ein neues Moment hinein,
wodurch dasselbe fast in sein Gegentheil verkehrt wurde, nämlich die Massenwir-
kung und die Poesie 0es Kontrastes.

Die Jnstrumentation ist bei Gluck von einer wunderbaren Schönheit, aber
zugleich so bescheiden, daß unser verwöhntes Ohr Fülle darin vermißt, daß man
in neueren Aufführungen versucht hat, sie voller zu machen. — Spontini war
der Erste, der jenen Sturm der Instrumentirung einführte, der schon durch seine
physische Macht ergreift. Dazu gehört die ausgedehntere Anwendung der Blas¬
instrumente, der Pauke, namentlich aber das Zusammenraffen aller Instrumente
in ihrer vollen Kraft zu plötzlichen, überwältigenden Wirkungen. Die Anekdote
von jenem Berliner ist bekannt, der, um sich vor dem Lärm der Spontini'schen Oper
zu retten, den Zapfenstreich anhörte, und sich über diese ruhige, sanfte Musik freute.
Die Sache ist nicht unrichtig. Zwar wird im Zapfenstreich der Lärm größer sein,
wenn man ihn als Ganzes gegen die Oper abwägt; aber es ist ein solider, gleich¬
mäßiger Lärm, den man nicht mehr merkt, wenn man daran gewöhnt ist: in der
Oper wird er durch die Gewalt des Contrastes erhöht.

Von Seiten der strengen, ich möchte sagen jüngferlichen Kunst hat man
gegen diese Verwendung der physischen Naturgewalt zu künstlerischen Zwecken sehr
lebhaft geeifert, aber mit uicht ganz stichhaltigen Gründen. Die Kammermusik


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/308>, abgerufen am 24.07.2024.