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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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der Humor lediglich dann, daß Beides nebeneinander gestellt ist; weder in der
einen noch in der andern Richtung ist etwas Humoristisches. Da machen es
einem die Tageblätter bequemer, indem sie in der Reihenfolge ihrer Annoncen
eine Freiheit und Naivetät beobachten, die weit über jenen studirten Contrast
hinausgeht. -- Hoffmann's sämmtliche Werke, Heine, Immermann's Münch-
hausen und ein großer Theil unserer jüngsten deutschen Belletristik fällt in
diese Kategorie. Mit dem Auseinanderfallen der Momente (des Idealen und
des Endlichen), deren Verwachsen die Poesie des Humors ausmacht, hört aber
alle Kunst auf.

-- Ich wende mich nach dieser Abschweifung, die keinen andern Zweck hatte,
als unserm Dichter seine Stellung im Gebiet des Humors anzuweisen, zu Dickens
zurück. --

Die Reihenfolge seiner Romane ist von den Pickwickiern an gerechnet: Nicolaus
Nickleby; Oliver Toise; Humphry's Clock (darin als Haupterzählung: der Na-
ritätenladen); Barnaby Rudge; Martin Chuzzlewit (zwischen diesem und dem vor¬
hergehenden liegt die Reise nach Amerika und die Noten darüber, welche jenseit
des Oceans so viel böses Blut gemacht haben; zwischen ihm und dem folgenden
die Reise nach Italien und die Gemälde aus Italien); Dombey and Son; David
Copperfield; außerdem eine Reihe kleiner Weihnachtsgeschichten, die Biographie
des Clown Grimaldi und in neuester Zeit die Household-Worts, ein Monatsblatt.

Eine Eigenthümlichkeit, die Dickens mit Shakespeare gemein hat, spricht sich
schon in den Pickwickiern aus: der Haß gegen Heuchelei und Lüge. Die Sekti-
rerei der Engländer hat allerdings eine Reihe häßlicher Erscheinungen hervorge¬
bracht, und schon Shakespeare kann nicht umhin, alle Augenblicke auf die augen¬
verdrehenden Puritaner zurückzukommen, deren scheinheiliges Wesen den spätern
Theil seines Lebens verbittert zu haben scheint. Es wäre aber ein falscher Schluß,
wenn mau aus dem häusigen Vorkommen solcher satyrischer Charakterbilder bei
den englischen Dichtern die Ansicht gewänne, in England seien die Tartuffes häu¬
figer als bei uus. Im Gegentheil ist es ein Zeichen für den vorherrschend
gesunden Sinn des englischen Volkes, daß diese frommen Männer nicht nur in
jedem Romane tüchtige Schläge erhalten, wie der Methodist in den Pickwickiern,
sondern daß sie auch stets eiuen komischen Eindruck machen. In Moliöre's Tar¬
tüffe spricht sich allerdings vorzugsweise der sittliche Ekel aus, aber daneben auch
etwas Scheu; die Peksniffe und ihres Gleichen erhalten schließlich ihren Fußtritt
stets mit dem Gelächter souveräner Verachtung. -- Ich könnte die Tartuffes in
sämmtlichen Romanen verfolgen; einen erheblich ästhetischen Eindruck machen sie
keineswegs. Sie gehören zu derjenigen Reihe Boz'scher Charaktere, welche nach
der Schablone gearbeitet sind, indem sie nichts darstellen, als eine bestimmte
Eigenschaft. Zwar kommt durch die sprudelnde Phantasie des Dichters immer
noch Laune und Leben genug hinein, namentlich ihr erstes Auftreten wirkt in der


der Humor lediglich dann, daß Beides nebeneinander gestellt ist; weder in der
einen noch in der andern Richtung ist etwas Humoristisches. Da machen es
einem die Tageblätter bequemer, indem sie in der Reihenfolge ihrer Annoncen
eine Freiheit und Naivetät beobachten, die weit über jenen studirten Contrast
hinausgeht. — Hoffmann's sämmtliche Werke, Heine, Immermann's Münch-
hausen und ein großer Theil unserer jüngsten deutschen Belletristik fällt in
diese Kategorie. Mit dem Auseinanderfallen der Momente (des Idealen und
des Endlichen), deren Verwachsen die Poesie des Humors ausmacht, hört aber
alle Kunst auf.

— Ich wende mich nach dieser Abschweifung, die keinen andern Zweck hatte,
als unserm Dichter seine Stellung im Gebiet des Humors anzuweisen, zu Dickens
zurück. —

Die Reihenfolge seiner Romane ist von den Pickwickiern an gerechnet: Nicolaus
Nickleby; Oliver Toise; Humphry's Clock (darin als Haupterzählung: der Na-
ritätenladen); Barnaby Rudge; Martin Chuzzlewit (zwischen diesem und dem vor¬
hergehenden liegt die Reise nach Amerika und die Noten darüber, welche jenseit
des Oceans so viel böses Blut gemacht haben; zwischen ihm und dem folgenden
die Reise nach Italien und die Gemälde aus Italien); Dombey and Son; David
Copperfield; außerdem eine Reihe kleiner Weihnachtsgeschichten, die Biographie
des Clown Grimaldi und in neuester Zeit die Household-Worts, ein Monatsblatt.

Eine Eigenthümlichkeit, die Dickens mit Shakespeare gemein hat, spricht sich
schon in den Pickwickiern aus: der Haß gegen Heuchelei und Lüge. Die Sekti-
rerei der Engländer hat allerdings eine Reihe häßlicher Erscheinungen hervorge¬
bracht, und schon Shakespeare kann nicht umhin, alle Augenblicke auf die augen¬
verdrehenden Puritaner zurückzukommen, deren scheinheiliges Wesen den spätern
Theil seines Lebens verbittert zu haben scheint. Es wäre aber ein falscher Schluß,
wenn mau aus dem häusigen Vorkommen solcher satyrischer Charakterbilder bei
den englischen Dichtern die Ansicht gewänne, in England seien die Tartuffes häu¬
figer als bei uus. Im Gegentheil ist es ein Zeichen für den vorherrschend
gesunden Sinn des englischen Volkes, daß diese frommen Männer nicht nur in
jedem Romane tüchtige Schläge erhalten, wie der Methodist in den Pickwickiern,
sondern daß sie auch stets eiuen komischen Eindruck machen. In Moliöre's Tar¬
tüffe spricht sich allerdings vorzugsweise der sittliche Ekel aus, aber daneben auch
etwas Scheu; die Peksniffe und ihres Gleichen erhalten schließlich ihren Fußtritt
stets mit dem Gelächter souveräner Verachtung. — Ich könnte die Tartuffes in
sämmtlichen Romanen verfolgen; einen erheblich ästhetischen Eindruck machen sie
keineswegs. Sie gehören zu derjenigen Reihe Boz'scher Charaktere, welche nach
der Schablone gearbeitet sind, indem sie nichts darstellen, als eine bestimmte
Eigenschaft. Zwar kommt durch die sprudelnde Phantasie des Dichters immer
noch Laune und Leben genug hinein, namentlich ihr erstes Auftreten wirkt in der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/180>, abgerufen am 24.07.2024.