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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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eine bunte Reihe ästhetischer Bilder, die man in der Geschichte des Christenthums
bisher übersehen hatte, weil man nur an Deduction, und nicht an Anschauung
gewöhnt war. Heutzutage macht das Buch einen lächerlichen Eindruck, da¬
mals aber enthielt es wirklich etwas Neues und wirkte durch Ueberraschung der
Phantasie, Eine ganz ähnliche Richtung schlugen die deutschen Halbdichter ein,
denn die sogenannten Symboliker und Naturphilosophen, die Schelling, Crercher,
Schubert n. s. w. zeichneten sich keineswegs durch die Klarheit und Sicherheit
ihrer Beweisführung ans, sondern durch die Menge von sinnigen und interessanten
Zügen aus der irrationeller Welt, d. h. ans der Welt, welche die Wissenschaft
bisher noch nicht überwunden hatte. Das Publicum interessirte sich weniger für
ihre Symbolik, als für die Anekdoten, durch welche sie dieselbe würzten. Während
die Aufklärung alles Besondere und Jrrationelle aus der Welt hätte vertilgen
mögen, bemühte sich im Gegentheil die Romantik, alles Besondere und Jrra-
tiouelle zu emancipiren. Man gab der individuellen Sittlichkeit, welche der
Regeln spottet, freien Spielraum -- so Schleiermacher, Schlegel in der Lucinde,
Jacobi -- man rettete sich aus der Flachheit der civilisirten Welt in die Spinn¬
stuben und Kirmesse, um durch die dort gesammelten Mährchen und Volkslieder
ästhetische Theezirkel zu entzücke" und zu erbauen. "Des Knaben Wunderhorn"
(1807) war damals eine Art ästhetischem Evangeliums, und da man an den
deutschen Volkssagen und Ammenmährchen noch nicht genug hatte, so durchstöberte
mau die skandinavischen Heldengcschichten und die Zauberbücher des Orients, und
was man darin nicht sand, phantasirte mau hinein. Während dies im Anfang
nur als ein Recht der freien dichterischen Phantasie betrachtet wurde, die sich an
das Gesetz der Wirklichkeit nicht binden dürfe, kam man bald dahin, sich in allem
Ernst des Aberglaubens anzunehmen; man emancipirte die Hexen, Heiligen und
Gespenster (sehr drollig uüumt sich namentlich bei dem nüchternen, verständigen
Jean Paul die Ehrbarkeit aus, mit der er einmal von den Hexenprocessen spricht,
und, angesteckt von der allgemeinen Richtung der Zeit, ein naturpbilvsophisches
Problem in ihnen sucht); man emancipirte die specifische Weiblichkeit Und die
specifische Kindlichkeit, welche man früher der Barbarei der Erziehung preis¬
gegeben hatte (vor Allen zeichneten sich Schleiermacher Und Adam Müller in
dieser Apotheose des kindlichen Lallens aus); man emancipirte die Schindanger¬
geschichten in der Kunst und die Mystik, d. h. die Verworrenheit im Denken.

Das alles sind nicht sehr erfreuliche Erscheinungen, und sie wurden noch
unerfreulicher, als man sich nicht mehr Mit den einfachen Bildern, nicht mehr mit
dem symbolischen Kaleidoskop, welches sie zu niedlichen Figuren gruppirte, be¬
gnügen mochte, sondern das Bedürfniß einer schulmäßigen Doctrin fühlte, in
welcher der Irrationalismus den Nationalismus mit ebenbürtigen Waffen be¬
kämpfen sollte. Allein es lag in dieser Reaction auch etwas sehr Positives, und
dieses machte sich, da die Blüthe der griechisch-romantischen Kunst in Deutschland


eine bunte Reihe ästhetischer Bilder, die man in der Geschichte des Christenthums
bisher übersehen hatte, weil man nur an Deduction, und nicht an Anschauung
gewöhnt war. Heutzutage macht das Buch einen lächerlichen Eindruck, da¬
mals aber enthielt es wirklich etwas Neues und wirkte durch Ueberraschung der
Phantasie, Eine ganz ähnliche Richtung schlugen die deutschen Halbdichter ein,
denn die sogenannten Symboliker und Naturphilosophen, die Schelling, Crercher,
Schubert n. s. w. zeichneten sich keineswegs durch die Klarheit und Sicherheit
ihrer Beweisführung ans, sondern durch die Menge von sinnigen und interessanten
Zügen aus der irrationeller Welt, d. h. ans der Welt, welche die Wissenschaft
bisher noch nicht überwunden hatte. Das Publicum interessirte sich weniger für
ihre Symbolik, als für die Anekdoten, durch welche sie dieselbe würzten. Während
die Aufklärung alles Besondere und Jrrationelle aus der Welt hätte vertilgen
mögen, bemühte sich im Gegentheil die Romantik, alles Besondere und Jrra-
tiouelle zu emancipiren. Man gab der individuellen Sittlichkeit, welche der
Regeln spottet, freien Spielraum — so Schleiermacher, Schlegel in der Lucinde,
Jacobi — man rettete sich aus der Flachheit der civilisirten Welt in die Spinn¬
stuben und Kirmesse, um durch die dort gesammelten Mährchen und Volkslieder
ästhetische Theezirkel zu entzücke» und zu erbauen. „Des Knaben Wunderhorn"
(1807) war damals eine Art ästhetischem Evangeliums, und da man an den
deutschen Volkssagen und Ammenmährchen noch nicht genug hatte, so durchstöberte
mau die skandinavischen Heldengcschichten und die Zauberbücher des Orients, und
was man darin nicht sand, phantasirte mau hinein. Während dies im Anfang
nur als ein Recht der freien dichterischen Phantasie betrachtet wurde, die sich an
das Gesetz der Wirklichkeit nicht binden dürfe, kam man bald dahin, sich in allem
Ernst des Aberglaubens anzunehmen; man emancipirte die Hexen, Heiligen und
Gespenster (sehr drollig uüumt sich namentlich bei dem nüchternen, verständigen
Jean Paul die Ehrbarkeit aus, mit der er einmal von den Hexenprocessen spricht,
und, angesteckt von der allgemeinen Richtung der Zeit, ein naturpbilvsophisches
Problem in ihnen sucht); man emancipirte die specifische Weiblichkeit Und die
specifische Kindlichkeit, welche man früher der Barbarei der Erziehung preis¬
gegeben hatte (vor Allen zeichneten sich Schleiermacher Und Adam Müller in
dieser Apotheose des kindlichen Lallens aus); man emancipirte die Schindanger¬
geschichten in der Kunst und die Mystik, d. h. die Verworrenheit im Denken.

Das alles sind nicht sehr erfreuliche Erscheinungen, und sie wurden noch
unerfreulicher, als man sich nicht mehr Mit den einfachen Bildern, nicht mehr mit
dem symbolischen Kaleidoskop, welches sie zu niedlichen Figuren gruppirte, be¬
gnügen mochte, sondern das Bedürfniß einer schulmäßigen Doctrin fühlte, in
welcher der Irrationalismus den Nationalismus mit ebenbürtigen Waffen be¬
kämpfen sollte. Allein es lag in dieser Reaction auch etwas sehr Positives, und
dieses machte sich, da die Blüthe der griechisch-romantischen Kunst in Deutschland


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/56>, abgerufen am 27.07.2024.