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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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charakterfester Mann, er schwärmte nicht, hielt sich immer an das Reale. Die
Geschichte ist seine Lehrerin. Schon früher hatte Narnszewicz seine gediegene
Geschichte Polens geschrieben, doch wegen des zu gelehrten sestes und des großen
Umfanges war sie nicht Jedermann zugänglich. Da beschloß Lelewel, eine Ge¬
schichte seines Volkes für das Volk zu schreiben. Seine neuesten Arbeiten
"D?iH6 P0^VS260KN6" und "?o1suc>, wioko^v svoän^ed", auf die wir uoch zu¬
rückkommen werden, zeigen nicht minder von genialer Auffassung und tiefer Ge¬
lehrsamkeit. Durch gründlichere Studien sucht man der ganzen Literatur eine
ausschließlich nationale Richtung zu geben. Wir finden jetzt eine große Anzahl
der bedeutenderen Literaten, die sich mit dem Sammeln Altpvlnischer Sagen und
Volkslieder beschäftigen. Man wollte die ungeheure Kluft, die in Polen zwischen
dex Natur- und Kunstpoesie besteht, ausgleichen und auf Grundlage der Volks¬
dichtung die eigentliche Nationalliteratnr entstehen lassen. Zuerst wagte Dieses
Bostan Zaleski, der der melvdieureichen Schwermut!) der Pole" Worte lieh
und seine herrlichen "Dnmky" (Sehnsuchtslieder) aus der Ukraine schrieb. Wir
fühlen nus in seinen düstern Steppenliedern ("aod va 8t<zM) an die Pusteubilder
des unglücklichen Lenau gemahnt. -- Auch die Philosophie fand in Polen Bear¬
beiter, obgleich der Nationalcharakter der Polen sich kaum einer gründlichen Spe-
culation hingeben könnte. So der geniale Trentowski, der übrigens sowol
durch Schriften als durch seiue Stellung mehr Deutschland als Polen angehört.
Bedeutendes leistete auch in neuester Zeit der ausgezeichnete Lehrer an der Kra¬
kauer Hochschule, Krem er. Eben so sind die Arbeiten Libell's den vorzüglicheren
zugerechnet. --

Die Polnische Literatur hat auf diese Weise bereits alle Phasen durchgemacht,
vou der niedrigsten Stufe der Volksdichtung bis zur Lyrik hinaus, ohne sich im
Drama versucht zu haben. Erst in neuerer Zeit hat Fredro seine Nationalko-
modicn geschrieben und anch dieser Dichtungsart den Weg angebahnt.

Eine merkwürdige Erscheinung, die wir noch erwähnen müssen, schließt die
Regenerationsperiodc der Polnischen Literatur. Es ist dies ein anonym erschie¬
nenes Drama unter dem Titel: liomczäiÄ medoskg, (Ungöttliche -- höllische --
Komödie), als dessen Verfasser Graf Krasinski bezeichnet wird. Es ist das National¬
drama der Polen. Mit furchtbarer Wahrheit wird uns der Kampf der alten
und neuen Gesellschaft vorgeführt. Die Hauptperson der Dichtung ist eine echt
Polnische Figur, ein alter Laudaristvkrat, der fünfzehn Staroste in seiner Familie
zählt. Er weist auf seiue Ahnenbilder, ans seinen langen, bis in die heidnische
Vorzeit reichenden Stammbaum zurück und ruft nur: "Preis seine" Vätern".
Pankratius, in welchem der Dichter uns den Helden der Neuzeit vorführt, ant¬
wortet ihm: "Ja, Preis Deinen Vätern im Himmel und auf Erden! ES ist der
Mühe werth, aus Deine Ahnenbilder Hinznsehen. Jener, ein Starost, erschoß die
alten Weiber im Walde und ließ die Juden lebendig verbreimen; Der da, mit dem


charakterfester Mann, er schwärmte nicht, hielt sich immer an das Reale. Die
Geschichte ist seine Lehrerin. Schon früher hatte Narnszewicz seine gediegene
Geschichte Polens geschrieben, doch wegen des zu gelehrten sestes und des großen
Umfanges war sie nicht Jedermann zugänglich. Da beschloß Lelewel, eine Ge¬
schichte seines Volkes für das Volk zu schreiben. Seine neuesten Arbeiten
„D?iH6 P0^VS260KN6" und „?o1suc>, wioko^v svoän^ed", auf die wir uoch zu¬
rückkommen werden, zeigen nicht minder von genialer Auffassung und tiefer Ge¬
lehrsamkeit. Durch gründlichere Studien sucht man der ganzen Literatur eine
ausschließlich nationale Richtung zu geben. Wir finden jetzt eine große Anzahl
der bedeutenderen Literaten, die sich mit dem Sammeln Altpvlnischer Sagen und
Volkslieder beschäftigen. Man wollte die ungeheure Kluft, die in Polen zwischen
dex Natur- und Kunstpoesie besteht, ausgleichen und auf Grundlage der Volks¬
dichtung die eigentliche Nationalliteratnr entstehen lassen. Zuerst wagte Dieses
Bostan Zaleski, der der melvdieureichen Schwermut!) der Pole» Worte lieh
und seine herrlichen „Dnmky" (Sehnsuchtslieder) aus der Ukraine schrieb. Wir
fühlen nus in seinen düstern Steppenliedern (»aod va 8t<zM) an die Pusteubilder
des unglücklichen Lenau gemahnt. — Auch die Philosophie fand in Polen Bear¬
beiter, obgleich der Nationalcharakter der Polen sich kaum einer gründlichen Spe-
culation hingeben könnte. So der geniale Trentowski, der übrigens sowol
durch Schriften als durch seiue Stellung mehr Deutschland als Polen angehört.
Bedeutendes leistete auch in neuester Zeit der ausgezeichnete Lehrer an der Kra¬
kauer Hochschule, Krem er. Eben so sind die Arbeiten Libell's den vorzüglicheren
zugerechnet. —

Die Polnische Literatur hat auf diese Weise bereits alle Phasen durchgemacht,
vou der niedrigsten Stufe der Volksdichtung bis zur Lyrik hinaus, ohne sich im
Drama versucht zu haben. Erst in neuerer Zeit hat Fredro seine Nationalko-
modicn geschrieben und anch dieser Dichtungsart den Weg angebahnt.

Eine merkwürdige Erscheinung, die wir noch erwähnen müssen, schließt die
Regenerationsperiodc der Polnischen Literatur. Es ist dies ein anonym erschie¬
nenes Drama unter dem Titel: liomczäiÄ medoskg, (Ungöttliche — höllische —
Komödie), als dessen Verfasser Graf Krasinski bezeichnet wird. Es ist das National¬
drama der Polen. Mit furchtbarer Wahrheit wird uns der Kampf der alten
und neuen Gesellschaft vorgeführt. Die Hauptperson der Dichtung ist eine echt
Polnische Figur, ein alter Laudaristvkrat, der fünfzehn Staroste in seiner Familie
zählt. Er weist auf seiue Ahnenbilder, ans seinen langen, bis in die heidnische
Vorzeit reichenden Stammbaum zurück und ruft nur: „Preis seine» Vätern".
Pankratius, in welchem der Dichter uns den Helden der Neuzeit vorführt, ant¬
wortet ihm: „Ja, Preis Deinen Vätern im Himmel und auf Erden! ES ist der
Mühe werth, aus Deine Ahnenbilder Hinznsehen. Jener, ein Starost, erschoß die
alten Weiber im Walde und ließ die Juden lebendig verbreimen; Der da, mit dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/521>, abgerufen am 01.09.2024.