Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Zigeuner spielt nur selten aus Noten, er faßt alle Tomveisen der Erde
mit dem bloßen Ohre auf und giebt sie von seiner Geige oder Klarinette wieder;
aber er, dessen bleibender Wohnsitz von der Gnade eines jeden Dorfrichters ab¬
hängt, der sich -- wie ein Ungarischer Dichter singt -- selbst nicht rühmen kann,
der Sclave eines Menschen zu sein, er hat sein Vaterland im Reiche der Tone,
das ihm von Niemandem in Ungarn streitig gemacht wird, und dies ist die Unga¬
rische Nationalmusik.

Der Magyar liebt nebst seinem Vaterland und seinem Pferde Gesang und
Musik über Alles, aber als Orientale hielt er besonders in früherer Zeit die
Ausübung der Musik für etwas dem ernsten Manne, dem tapfern Krieger
Ungeziemendes. Die kriegerische Vorzeit unsers Vaterlandes mag auch das
Ihrige beigetragen haben, den Magyaren von der Handhabung des Instrumentes
fern zu halten. Der Zigeuner, der das Privilegium eines Paria hatte, von
Freund und Feind unbeachtet zu bleiben, begleitete deu Magyarischeu Krieger in
die Schlacht, entflammte seinen Muth durch die berauschenden Accorde des Näköczi-
marsches, und strich seine Geige sowol bei den Triumphzügen der Ungarischen
Helden, wenn sie siegreich ans der Türkenschlacht heimkehrten, als vor dem Zelte
des Osmanischen Pascha, wenn dieser sich zum Zeitvertreib einige Hundert Ma¬
gyarenköpfe niedersäbeln ließ. Er triumphirte nur, wenn der gnädige Peitschen¬
hieb des Magnaten von einer vollen Flasche und einigen Silbermünzen begleitet
wurde, und wurde nnr nach Stambul geführt, wenn eine glänzende Gesandtschaft
dem Padischah ihre Aufwartung machen sollte, bei welcher eine Musikbande wie
bei andern Feierlichkeiten nicht fehlen durste.

Ju neuerer Zeit, wo der Ungar den Streitkolben mit der Feder und das
handbreite Schlachtschwert mit dem Paradesäbel vertauschte, wo der Feind nicht
mehr von den Ufern des Bosporus, sondern von der großen Kaiserstadt her
drohte, wurden nicht weniger und nicht minder erfolgreiche Schlachten geliefert,
und der Baueruadel -- diese stehende und stets mobile Armee der vormärzlichen
Konstitution -- folgte jetzt dem ,,lon' cadere" -- Manne des Vaterlandes --
in den Cvmitatssaal, um dort gegen die "Petsvvitsen" -- Negieruugsgefinuteu,
Conservativen -- zu kämpfen, wie früher dem Obergespan oder Palatin in die
Schlacht gegen Türken "ud Tartarn". Die vierteljährlichen Comitatsversamm-
lungcn, und noch mehr die alle drei Jahre stattfindende Bcamtcnnenwahl und die
Wahl der Neichötagsdeputirteu bildeten die constitutionellen Schlachtfelder, wo
alle Abstufungen des Adels, die zu einer Partei gehörten, eine geschlossene
Phalanx bildeten, um auf die Gegenpartei loszustürmen, oder sich gegen dieselbe
zu vertheidigen, und hier war es, wo der branne Tonkünstler eine Nothwendig¬
keit, ja in einer gewissen Hinsicht eine Macht im Staate bildete. Die A. A. Zei¬
tung, welche schon im Vormärz so sehr beflissen war, die Schattenseiten unsrer
alten Verfassung -- die übrigens jede alte Verfassung hat -- hervorzuheben, und


Der Zigeuner spielt nur selten aus Noten, er faßt alle Tomveisen der Erde
mit dem bloßen Ohre auf und giebt sie von seiner Geige oder Klarinette wieder;
aber er, dessen bleibender Wohnsitz von der Gnade eines jeden Dorfrichters ab¬
hängt, der sich — wie ein Ungarischer Dichter singt — selbst nicht rühmen kann,
der Sclave eines Menschen zu sein, er hat sein Vaterland im Reiche der Tone,
das ihm von Niemandem in Ungarn streitig gemacht wird, und dies ist die Unga¬
rische Nationalmusik.

Der Magyar liebt nebst seinem Vaterland und seinem Pferde Gesang und
Musik über Alles, aber als Orientale hielt er besonders in früherer Zeit die
Ausübung der Musik für etwas dem ernsten Manne, dem tapfern Krieger
Ungeziemendes. Die kriegerische Vorzeit unsers Vaterlandes mag auch das
Ihrige beigetragen haben, den Magyaren von der Handhabung des Instrumentes
fern zu halten. Der Zigeuner, der das Privilegium eines Paria hatte, von
Freund und Feind unbeachtet zu bleiben, begleitete deu Magyarischeu Krieger in
die Schlacht, entflammte seinen Muth durch die berauschenden Accorde des Näköczi-
marsches, und strich seine Geige sowol bei den Triumphzügen der Ungarischen
Helden, wenn sie siegreich ans der Türkenschlacht heimkehrten, als vor dem Zelte
des Osmanischen Pascha, wenn dieser sich zum Zeitvertreib einige Hundert Ma¬
gyarenköpfe niedersäbeln ließ. Er triumphirte nur, wenn der gnädige Peitschen¬
hieb des Magnaten von einer vollen Flasche und einigen Silbermünzen begleitet
wurde, und wurde nnr nach Stambul geführt, wenn eine glänzende Gesandtschaft
dem Padischah ihre Aufwartung machen sollte, bei welcher eine Musikbande wie
bei andern Feierlichkeiten nicht fehlen durste.

Ju neuerer Zeit, wo der Ungar den Streitkolben mit der Feder und das
handbreite Schlachtschwert mit dem Paradesäbel vertauschte, wo der Feind nicht
mehr von den Ufern des Bosporus, sondern von der großen Kaiserstadt her
drohte, wurden nicht weniger und nicht minder erfolgreiche Schlachten geliefert,
und der Baueruadel — diese stehende und stets mobile Armee der vormärzlichen
Konstitution — folgte jetzt dem ,,lon' cadere" — Manne des Vaterlandes —
in den Cvmitatssaal, um dort gegen die „Petsvvitsen" — Negieruugsgefinuteu,
Conservativen — zu kämpfen, wie früher dem Obergespan oder Palatin in die
Schlacht gegen Türken »ud Tartarn». Die vierteljährlichen Comitatsversamm-
lungcn, und noch mehr die alle drei Jahre stattfindende Bcamtcnnenwahl und die
Wahl der Neichötagsdeputirteu bildeten die constitutionellen Schlachtfelder, wo
alle Abstufungen des Adels, die zu einer Partei gehörten, eine geschlossene
Phalanx bildeten, um auf die Gegenpartei loszustürmen, oder sich gegen dieselbe
zu vertheidigen, und hier war es, wo der branne Tonkünstler eine Nothwendig¬
keit, ja in einer gewissen Hinsicht eine Macht im Staate bildete. Die A. A. Zei¬
tung, welche schon im Vormärz so sehr beflissen war, die Schattenseiten unsrer
alten Verfassung — die übrigens jede alte Verfassung hat — hervorzuheben, und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0396" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91589"/>
          <p xml:id="ID_1079"> Der Zigeuner spielt nur selten aus Noten, er faßt alle Tomveisen der Erde<lb/>
mit dem bloßen Ohre auf und giebt sie von seiner Geige oder Klarinette wieder;<lb/>
aber er, dessen bleibender Wohnsitz von der Gnade eines jeden Dorfrichters ab¬<lb/>
hängt, der sich &#x2014; wie ein Ungarischer Dichter singt &#x2014; selbst nicht rühmen kann,<lb/>
der Sclave eines Menschen zu sein, er hat sein Vaterland im Reiche der Tone,<lb/>
das ihm von Niemandem in Ungarn streitig gemacht wird, und dies ist die Unga¬<lb/>
rische Nationalmusik.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1080"> Der Magyar liebt nebst seinem Vaterland und seinem Pferde Gesang und<lb/>
Musik über Alles, aber als Orientale hielt er besonders in früherer Zeit die<lb/>
Ausübung der Musik für etwas dem ernsten Manne, dem tapfern Krieger<lb/>
Ungeziemendes. Die kriegerische Vorzeit unsers Vaterlandes mag auch das<lb/>
Ihrige beigetragen haben, den Magyaren von der Handhabung des Instrumentes<lb/>
fern zu halten. Der Zigeuner, der das Privilegium eines Paria hatte, von<lb/>
Freund und Feind unbeachtet zu bleiben, begleitete deu Magyarischeu Krieger in<lb/>
die Schlacht, entflammte seinen Muth durch die berauschenden Accorde des Näköczi-<lb/>
marsches, und strich seine Geige sowol bei den Triumphzügen der Ungarischen<lb/>
Helden, wenn sie siegreich ans der Türkenschlacht heimkehrten, als vor dem Zelte<lb/>
des Osmanischen Pascha, wenn dieser sich zum Zeitvertreib einige Hundert Ma¬<lb/>
gyarenköpfe niedersäbeln ließ. Er triumphirte nur, wenn der gnädige Peitschen¬<lb/>
hieb des Magnaten von einer vollen Flasche und einigen Silbermünzen begleitet<lb/>
wurde, und wurde nnr nach Stambul geführt, wenn eine glänzende Gesandtschaft<lb/>
dem Padischah ihre Aufwartung machen sollte, bei welcher eine Musikbande wie<lb/>
bei andern Feierlichkeiten nicht fehlen durste.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1081" next="#ID_1082"> Ju neuerer Zeit, wo der Ungar den Streitkolben mit der Feder und das<lb/>
handbreite Schlachtschwert mit dem Paradesäbel vertauschte, wo der Feind nicht<lb/>
mehr von den Ufern des Bosporus, sondern von der großen Kaiserstadt her<lb/>
drohte, wurden nicht weniger und nicht minder erfolgreiche Schlachten geliefert,<lb/>
und der Baueruadel &#x2014; diese stehende und stets mobile Armee der vormärzlichen<lb/>
Konstitution &#x2014; folgte jetzt dem ,,lon' cadere" &#x2014; Manne des Vaterlandes &#x2014;<lb/>
in den Cvmitatssaal, um dort gegen die &#x201E;Petsvvitsen" &#x2014; Negieruugsgefinuteu,<lb/>
Conservativen &#x2014; zu kämpfen, wie früher dem Obergespan oder Palatin in die<lb/>
Schlacht gegen Türken »ud Tartarn». Die vierteljährlichen Comitatsversamm-<lb/>
lungcn, und noch mehr die alle drei Jahre stattfindende Bcamtcnnenwahl und die<lb/>
Wahl der Neichötagsdeputirteu bildeten die constitutionellen Schlachtfelder, wo<lb/>
alle Abstufungen des Adels, die zu einer Partei gehörten, eine geschlossene<lb/>
Phalanx bildeten, um auf die Gegenpartei loszustürmen, oder sich gegen dieselbe<lb/>
zu vertheidigen, und hier war es, wo der branne Tonkünstler eine Nothwendig¬<lb/>
keit, ja in einer gewissen Hinsicht eine Macht im Staate bildete. Die A. A. Zei¬<lb/>
tung, welche schon im Vormärz so sehr beflissen war, die Schattenseiten unsrer<lb/>
alten Verfassung &#x2014; die übrigens jede alte Verfassung hat &#x2014; hervorzuheben, und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0396] Der Zigeuner spielt nur selten aus Noten, er faßt alle Tomveisen der Erde mit dem bloßen Ohre auf und giebt sie von seiner Geige oder Klarinette wieder; aber er, dessen bleibender Wohnsitz von der Gnade eines jeden Dorfrichters ab¬ hängt, der sich — wie ein Ungarischer Dichter singt — selbst nicht rühmen kann, der Sclave eines Menschen zu sein, er hat sein Vaterland im Reiche der Tone, das ihm von Niemandem in Ungarn streitig gemacht wird, und dies ist die Unga¬ rische Nationalmusik. Der Magyar liebt nebst seinem Vaterland und seinem Pferde Gesang und Musik über Alles, aber als Orientale hielt er besonders in früherer Zeit die Ausübung der Musik für etwas dem ernsten Manne, dem tapfern Krieger Ungeziemendes. Die kriegerische Vorzeit unsers Vaterlandes mag auch das Ihrige beigetragen haben, den Magyaren von der Handhabung des Instrumentes fern zu halten. Der Zigeuner, der das Privilegium eines Paria hatte, von Freund und Feind unbeachtet zu bleiben, begleitete deu Magyarischeu Krieger in die Schlacht, entflammte seinen Muth durch die berauschenden Accorde des Näköczi- marsches, und strich seine Geige sowol bei den Triumphzügen der Ungarischen Helden, wenn sie siegreich ans der Türkenschlacht heimkehrten, als vor dem Zelte des Osmanischen Pascha, wenn dieser sich zum Zeitvertreib einige Hundert Ma¬ gyarenköpfe niedersäbeln ließ. Er triumphirte nur, wenn der gnädige Peitschen¬ hieb des Magnaten von einer vollen Flasche und einigen Silbermünzen begleitet wurde, und wurde nnr nach Stambul geführt, wenn eine glänzende Gesandtschaft dem Padischah ihre Aufwartung machen sollte, bei welcher eine Musikbande wie bei andern Feierlichkeiten nicht fehlen durste. Ju neuerer Zeit, wo der Ungar den Streitkolben mit der Feder und das handbreite Schlachtschwert mit dem Paradesäbel vertauschte, wo der Feind nicht mehr von den Ufern des Bosporus, sondern von der großen Kaiserstadt her drohte, wurden nicht weniger und nicht minder erfolgreiche Schlachten geliefert, und der Baueruadel — diese stehende und stets mobile Armee der vormärzlichen Konstitution — folgte jetzt dem ,,lon' cadere" — Manne des Vaterlandes — in den Cvmitatssaal, um dort gegen die „Petsvvitsen" — Negieruugsgefinuteu, Conservativen — zu kämpfen, wie früher dem Obergespan oder Palatin in die Schlacht gegen Türken »ud Tartarn». Die vierteljährlichen Comitatsversamm- lungcn, und noch mehr die alle drei Jahre stattfindende Bcamtcnnenwahl und die Wahl der Neichötagsdeputirteu bildeten die constitutionellen Schlachtfelder, wo alle Abstufungen des Adels, die zu einer Partei gehörten, eine geschlossene Phalanx bildeten, um auf die Gegenpartei loszustürmen, oder sich gegen dieselbe zu vertheidigen, und hier war es, wo der branne Tonkünstler eine Nothwendig¬ keit, ja in einer gewissen Hinsicht eine Macht im Staate bildete. Die A. A. Zei¬ tung, welche schon im Vormärz so sehr beflissen war, die Schattenseiten unsrer alten Verfassung — die übrigens jede alte Verfassung hat — hervorzuheben, und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/396
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/396>, abgerufen am 01.09.2024.