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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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beitete Ausführung dem darstellenden Künstler Eintrag thun würde. Der neueste
Erfolg hat diese Besorgnis; nicht bestätigt. Döring hat in Berlin das Stück
zu einem der beliebtesten Lustspiele gemacht. Für die Kenntniß Kleist's ist es nur
insofern von Wichtigkeit, als es seine große Fähigkeit verräth, sich in eine seiner
Grundstimmung fremde Welt zu versetzen. Das Stück ist durchaus heiter ge¬
halten, und enthält eine sprechende Antwort ans jene von der überweisen philo¬
sophischen Kritik unsrer Tage ausgestellte Frage, wie mau sich über eine unmo¬
ralische Person, z. B. über Falstaff, belustige" könne. Man belustigt sich eben
uicht über ihre Jmmoralität, sondern über ihre komischen Seiten, und es kommt
nnr darauf an, den Eindruck der erstem fern zu halten. Der Gerichtsrath Walter
in unserm Stück vertritt in breiterer Ausführung, aber in demselben Sinne wie
Prinz Heinrich, das verständige Publicum; er macht den unredlichen Richter un-
schädlich, aber er ist uicht Puritaner genug, um sich durch diese Wichtigkeit seines
Amtes den Humor verderben zu lasse". -- Auch Kleist muß doch seine Stunden
gehabt haben, wo er Frende am Leben fand, denn die saubere Ausführung dieses
echt Niederländischen Gemäldes spricht von einen: inner" Behagen, und man darf
sie nur z. B. mit Hebel's Schröck vergleichen, um sich deu Unterschied des na¬
türlichen und des gemachten Humors klar zu machen. -- Schwächer ist ein anderes
Lustspiel: Amphitryon, in welchem die derben Späße des Plautus durch Ein¬
mischung allegorischer Einfälle, die das Komische verstärken sollen, nur verwirrt
werden.

Die Familie Schroffenstein (-1803) ist trotz der sehr geistvollen Aus¬
führung, der scharfen Charakteristik und einzelner Stellen von der höchsten Poesie
(z. B. das Zusammentreffen der beiden Liebenden in der Waldgrotte) dennoch
als ein verfehlter Versuch zu betrachten, wie das auch in der Berliner Anssiihrnng
deutlich geworden ist. Tieck erklärt sich mit dem Stück im Ganzen einverstanden'
und tadelt nur den Schluß, der als die Veranlassung der gauzen complicirten
Greuelgeschichtc einen zufälligen, der Haupthandlung völlig feruliegeuden Umstand
entdeckt; aber dieser Schluß gehört wesentlich zum Stück. Das Mißverständniß,
als treibende Kraft der Handlung, ziemt nur dein Lustspiel; wo wir eine tragische
Handlung vor uns sehen, wollen 'wir auch eine tragische Nothwendigkeit heraus-
erkennen. Wenn man sich bei jeder Scene sagen kann: noch in diesem Augen¬
blick kann das Schicksal abgewandt werden, wenn die betheiligten Menschen nicht
vollständig taub und blind sind, so wird der Eindruck ein peinlicher, und es ent¬
steht jenes fröstelnde, ungesunde Gefühl, welches Hebbel in seiner neuerfundenen
Gattung der Tragikomödie mit Absicht anregt. Der Zufall, das Mißverständniß,
darf allerdings unter den Hebeln der Maschinerie mit angewandt werden, aber
er darf sich nicht hervordrängen, er darf nicht unsre ausschließliche Aufmerksamkeit
auf sich ziehen. In "Romeo und Julie" z. B., einem Stück, dessen Stoff mit
der Familie Schroffeustein sehr nahe verwandt ist, wird die Katastrophe gleichfalls


beitete Ausführung dem darstellenden Künstler Eintrag thun würde. Der neueste
Erfolg hat diese Besorgnis; nicht bestätigt. Döring hat in Berlin das Stück
zu einem der beliebtesten Lustspiele gemacht. Für die Kenntniß Kleist's ist es nur
insofern von Wichtigkeit, als es seine große Fähigkeit verräth, sich in eine seiner
Grundstimmung fremde Welt zu versetzen. Das Stück ist durchaus heiter ge¬
halten, und enthält eine sprechende Antwort ans jene von der überweisen philo¬
sophischen Kritik unsrer Tage ausgestellte Frage, wie mau sich über eine unmo¬
ralische Person, z. B. über Falstaff, belustige» könne. Man belustigt sich eben
uicht über ihre Jmmoralität, sondern über ihre komischen Seiten, und es kommt
nnr darauf an, den Eindruck der erstem fern zu halten. Der Gerichtsrath Walter
in unserm Stück vertritt in breiterer Ausführung, aber in demselben Sinne wie
Prinz Heinrich, das verständige Publicum; er macht den unredlichen Richter un-
schädlich, aber er ist uicht Puritaner genug, um sich durch diese Wichtigkeit seines
Amtes den Humor verderben zu lasse». — Auch Kleist muß doch seine Stunden
gehabt haben, wo er Frende am Leben fand, denn die saubere Ausführung dieses
echt Niederländischen Gemäldes spricht von einen: inner» Behagen, und man darf
sie nur z. B. mit Hebel's Schröck vergleichen, um sich deu Unterschied des na¬
türlichen und des gemachten Humors klar zu machen. — Schwächer ist ein anderes
Lustspiel: Amphitryon, in welchem die derben Späße des Plautus durch Ein¬
mischung allegorischer Einfälle, die das Komische verstärken sollen, nur verwirrt
werden.

Die Familie Schroffenstein (-1803) ist trotz der sehr geistvollen Aus¬
führung, der scharfen Charakteristik und einzelner Stellen von der höchsten Poesie
(z. B. das Zusammentreffen der beiden Liebenden in der Waldgrotte) dennoch
als ein verfehlter Versuch zu betrachten, wie das auch in der Berliner Anssiihrnng
deutlich geworden ist. Tieck erklärt sich mit dem Stück im Ganzen einverstanden'
und tadelt nur den Schluß, der als die Veranlassung der gauzen complicirten
Greuelgeschichtc einen zufälligen, der Haupthandlung völlig feruliegeuden Umstand
entdeckt; aber dieser Schluß gehört wesentlich zum Stück. Das Mißverständniß,
als treibende Kraft der Handlung, ziemt nur dein Lustspiel; wo wir eine tragische
Handlung vor uns sehen, wollen 'wir auch eine tragische Nothwendigkeit heraus-
erkennen. Wenn man sich bei jeder Scene sagen kann: noch in diesem Augen¬
blick kann das Schicksal abgewandt werden, wenn die betheiligten Menschen nicht
vollständig taub und blind sind, so wird der Eindruck ein peinlicher, und es ent¬
steht jenes fröstelnde, ungesunde Gefühl, welches Hebbel in seiner neuerfundenen
Gattung der Tragikomödie mit Absicht anregt. Der Zufall, das Mißverständniß,
darf allerdings unter den Hebeln der Maschinerie mit angewandt werden, aber
er darf sich nicht hervordrängen, er darf nicht unsre ausschließliche Aufmerksamkeit
auf sich ziehen. In „Romeo und Julie" z. B., einem Stück, dessen Stoff mit
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/342>, abgerufen am 01.09.2024.