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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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selbe hier geschehen läßt. Der Apologet des Euripides will die Verläumduugsthat
seiner Phädra dadurch entschuldigen, daß die Mutter für die Ehre und das Glück
ihrer Kinder, ihres Geschlechtes handle, daß sie überdies im plötzlichen Wahnwitz
überlegnngslvs und rasch die That verübe. Das Verbrechen dnrch jenen Zweck
vertheidigen zu wollen, würde allzusehr an die Moral des Loyola erinnern. Es
wird also mit Recht ans deu Wahnwitz das Hauptgewicht gelegt, und gerade darin
bin ich abweichender Ansicht. In der Tragödie des Euripides verläßt Phädra,
als sie zum Tode geht, die Scene mit folgender Reflexion:


"Doch ich will Kypris, die mich in's Verderben stürzt -
Durch meiner Seele Scheiden noch am heut'gar Tag /
Erfreun, denn bittrer Liebe kämpf' umsonst ich an,
Fluchbringend aber werd' auch ihm (dem Hippolyt) im Tod' ich sein.
Damit er einsieht, daß er meinem Mißgeschick
Nicht unerreichbar. Dock) dergleichen Pein mit mir
Gemeinsam theilhaft, wird er klug zu sein versteh"."

Das wäre Wahnwitz? Ich finde hier im Gegentheil die vollste Ueberlegung, das
Bewußtsein der Phädra, daß sie als Werkzeug der Göttin zu handeln habe,
und in dieser mystischen Religionsaufchauuug lag für den Griechen die sittliche
Rechtfertigung der Verläumdung. Für uns aber verliert die Handlung der
Phädra um desselben Beweggrundes willen, dnrch ihre Abhängigkeit und Un¬
freiheit jeden Anspruch aus lebendige sittliche Theilnahme, während sich diese der
Phädra des Racine zuwendet, welche zuerst aus innerem Drang der Leidenschaft,
dann aus Verwirrung der Seele aus den Schranken der Sittlichkeit weicht, und
den Kampf zugleich mit ihrem Leben in reuiger Demuth beendet. Käme Phädra's
Reue v o r dem Tode des Hippolyt, der in der Französischen Tragödie ohne allen
Grund erfolgt, zur That, so würde sie dem Gefühl viel entschiedener als sittliche
Sühne sich darstellen, die durch den vorhergegangenen Kampf und die in mensch¬
licher Freiheit errungene Selbstüberwindung eine höhere sittliche Kraft in sich
trägt, als die von Anfang an fertige Moral der Phädra des Euripides. Es
verbindet sich in dieser Losung des dramatischen Conflictes mit der menschlichen
Anschauung des Französischen Dichters zugleich ein modernes Knnstprincip, das
dem antiken völlig entgegengesetzt ist, und bei allem Anschluß an die alten Formen
von Racine nicht verläugnet werden konnte. Es begründet sich in dem Gegen¬
satz des psychischen Werdens im neuern Drama zu dem plastischen Ge¬
wordensein der Seelenstimmungen im antiken Drama. Das Erstere süße
mit seinen psychologischen Gesetzen ans dem Grundsätze menschlicher Entwickelungs¬
fähigkeit, das Letztere auf dem Grundsatze göttlicher Vorherbestimmung.

Bei Euripides ist der Tod des Hippolyt eine Folge des Zorns, mit welchem
Kypris den Verächter ihrer Macht verfolgt, eine nach den Gesetzen des Griechischen
Schönheitscnltus gerechte Strafe für Hippolyt's ausschließliche Verehrung der


selbe hier geschehen läßt. Der Apologet des Euripides will die Verläumduugsthat
seiner Phädra dadurch entschuldigen, daß die Mutter für die Ehre und das Glück
ihrer Kinder, ihres Geschlechtes handle, daß sie überdies im plötzlichen Wahnwitz
überlegnngslvs und rasch die That verübe. Das Verbrechen dnrch jenen Zweck
vertheidigen zu wollen, würde allzusehr an die Moral des Loyola erinnern. Es
wird also mit Recht ans deu Wahnwitz das Hauptgewicht gelegt, und gerade darin
bin ich abweichender Ansicht. In der Tragödie des Euripides verläßt Phädra,
als sie zum Tode geht, die Scene mit folgender Reflexion:


„Doch ich will Kypris, die mich in's Verderben stürzt -
Durch meiner Seele Scheiden noch am heut'gar Tag /
Erfreun, denn bittrer Liebe kämpf' umsonst ich an,
Fluchbringend aber werd' auch ihm (dem Hippolyt) im Tod' ich sein.
Damit er einsieht, daß er meinem Mißgeschick
Nicht unerreichbar. Dock) dergleichen Pein mit mir
Gemeinsam theilhaft, wird er klug zu sein versteh»."

Das wäre Wahnwitz? Ich finde hier im Gegentheil die vollste Ueberlegung, das
Bewußtsein der Phädra, daß sie als Werkzeug der Göttin zu handeln habe,
und in dieser mystischen Religionsaufchauuug lag für den Griechen die sittliche
Rechtfertigung der Verläumdung. Für uns aber verliert die Handlung der
Phädra um desselben Beweggrundes willen, dnrch ihre Abhängigkeit und Un¬
freiheit jeden Anspruch aus lebendige sittliche Theilnahme, während sich diese der
Phädra des Racine zuwendet, welche zuerst aus innerem Drang der Leidenschaft,
dann aus Verwirrung der Seele aus den Schranken der Sittlichkeit weicht, und
den Kampf zugleich mit ihrem Leben in reuiger Demuth beendet. Käme Phädra's
Reue v o r dem Tode des Hippolyt, der in der Französischen Tragödie ohne allen
Grund erfolgt, zur That, so würde sie dem Gefühl viel entschiedener als sittliche
Sühne sich darstellen, die durch den vorhergegangenen Kampf und die in mensch¬
licher Freiheit errungene Selbstüberwindung eine höhere sittliche Kraft in sich
trägt, als die von Anfang an fertige Moral der Phädra des Euripides. Es
verbindet sich in dieser Losung des dramatischen Conflictes mit der menschlichen
Anschauung des Französischen Dichters zugleich ein modernes Knnstprincip, das
dem antiken völlig entgegengesetzt ist, und bei allem Anschluß an die alten Formen
von Racine nicht verläugnet werden konnte. Es begründet sich in dem Gegen¬
satz des psychischen Werdens im neuern Drama zu dem plastischen Ge¬
wordensein der Seelenstimmungen im antiken Drama. Das Erstere süße
mit seinen psychologischen Gesetzen ans dem Grundsätze menschlicher Entwickelungs¬
fähigkeit, das Letztere auf dem Grundsatze göttlicher Vorherbestimmung.

Bei Euripides ist der Tod des Hippolyt eine Folge des Zorns, mit welchem
Kypris den Verächter ihrer Macht verfolgt, eine nach den Gesetzen des Griechischen
Schönheitscnltus gerechte Strafe für Hippolyt's ausschließliche Verehrung der


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[0278] selbe hier geschehen läßt. Der Apologet des Euripides will die Verläumduugsthat seiner Phädra dadurch entschuldigen, daß die Mutter für die Ehre und das Glück ihrer Kinder, ihres Geschlechtes handle, daß sie überdies im plötzlichen Wahnwitz überlegnngslvs und rasch die That verübe. Das Verbrechen dnrch jenen Zweck vertheidigen zu wollen, würde allzusehr an die Moral des Loyola erinnern. Es wird also mit Recht ans deu Wahnwitz das Hauptgewicht gelegt, und gerade darin bin ich abweichender Ansicht. In der Tragödie des Euripides verläßt Phädra, als sie zum Tode geht, die Scene mit folgender Reflexion: „Doch ich will Kypris, die mich in's Verderben stürzt - Durch meiner Seele Scheiden noch am heut'gar Tag / Erfreun, denn bittrer Liebe kämpf' umsonst ich an, Fluchbringend aber werd' auch ihm (dem Hippolyt) im Tod' ich sein. Damit er einsieht, daß er meinem Mißgeschick Nicht unerreichbar. Dock) dergleichen Pein mit mir Gemeinsam theilhaft, wird er klug zu sein versteh»." Das wäre Wahnwitz? Ich finde hier im Gegentheil die vollste Ueberlegung, das Bewußtsein der Phädra, daß sie als Werkzeug der Göttin zu handeln habe, und in dieser mystischen Religionsaufchauuug lag für den Griechen die sittliche Rechtfertigung der Verläumdung. Für uns aber verliert die Handlung der Phädra um desselben Beweggrundes willen, dnrch ihre Abhängigkeit und Un¬ freiheit jeden Anspruch aus lebendige sittliche Theilnahme, während sich diese der Phädra des Racine zuwendet, welche zuerst aus innerem Drang der Leidenschaft, dann aus Verwirrung der Seele aus den Schranken der Sittlichkeit weicht, und den Kampf zugleich mit ihrem Leben in reuiger Demuth beendet. Käme Phädra's Reue v o r dem Tode des Hippolyt, der in der Französischen Tragödie ohne allen Grund erfolgt, zur That, so würde sie dem Gefühl viel entschiedener als sittliche Sühne sich darstellen, die durch den vorhergegangenen Kampf und die in mensch¬ licher Freiheit errungene Selbstüberwindung eine höhere sittliche Kraft in sich trägt, als die von Anfang an fertige Moral der Phädra des Euripides. Es verbindet sich in dieser Losung des dramatischen Conflictes mit der menschlichen Anschauung des Französischen Dichters zugleich ein modernes Knnstprincip, das dem antiken völlig entgegengesetzt ist, und bei allem Anschluß an die alten Formen von Racine nicht verläugnet werden konnte. Es begründet sich in dem Gegen¬ satz des psychischen Werdens im neuern Drama zu dem plastischen Ge¬ wordensein der Seelenstimmungen im antiken Drama. Das Erstere süße mit seinen psychologischen Gesetzen ans dem Grundsätze menschlicher Entwickelungs¬ fähigkeit, das Letztere auf dem Grundsatze göttlicher Vorherbestimmung. Bei Euripides ist der Tod des Hippolyt eine Folge des Zorns, mit welchem Kypris den Verächter ihrer Macht verfolgt, eine nach den Gesetzen des Griechischen Schönheitscnltus gerechte Strafe für Hippolyt's ausschließliche Verehrung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/278>, abgerufen am 27.07.2024.