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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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in Oestreich, die Zusammensetzung des Staates aus völlig heterogenen Theilen,
deren jeder seiue Souderinteressen und keiner einen bedeutenden Mittelpunkt hatte,
außer dem Osmanisch-nationalen und Muhamedanisch-religiösen Elemente. So
lange der Osmanische Stamm erobernd auftrat und durch seine physische Kraft
den übrigen Stämmen imponirte; so lange der Islam voll fatalistischer Sicherheit
sich als das erhaltende Princip des Staates geltend machte und dadurch jedes
Auskommen des christlichen Elementes zu hindern vermochte, war die Türkei groß
und mächtig, traten keine religiösen und nationalen Differenzen hervor und schienen
vom Türkeuthume gänzlich absorbirt zu sein. Aber schon die Oestreichisch-Türkischen
Kriege veränderten diese Situation; es war hier das slawische Element, welches
dem Eroberungsgauge des Türkeuthums Halt gebot, welches ihm Ungarn entriß
und, wenn eine Verständigung zwischen den Türkischen Slawen und dem Deutschen
Kaiserthum möglich gewesen wäre, es schon damals ans ein sehr engss Terrain
eingeschränkt hätte. Dies unterblieb aber; die Türkischen Slawen hatten keinen
Centralpunkt gewonnen, die Einigung war unmöglich. Nun war es aber Ruß-
land, welches seinerseits die Rolle übernahm, die Türkei zu Grunde zu richten,
indem es die Grundbedingung der Existenz des Türkeuthums, das Eroberungs-
priucip, an der Wurzel angriff und selbst zu erobern anfing. Wenn es Peter
der Große noch als ein Glück ansehen mußte, sich durch den Frieden von Hnsti
(12! Juli 1711) gerettet zu haben, so war schon die Lage seiner nächsten Nach¬
folger eine andere geworden: nun waren eS die Türken, welche bei jedem Kriege,
in jedem Friedensschlüsse Verluste erlitten; deren Reich immer mehr und mehr
geschmälert wurde, so daß endlich die "Moskowi" selbst in Stambul ihre nächsten
Nachbarn wurden und sie froh sein mußten, wenn Rußland ihnen nicht die
Metropole bedrohte oder gar entriß. Sie wurden in eine rein defensive Stellung
gedrängt; die Zuversicht, die Siegesgewißheit, das Selbstbewußtsein des Türkeu¬
thums war dahin für immer, und bei aller unserer persönlichen Achtung für den
geistvollen "Fragmentisten" wagen wir es zu behaupten, daß er sich gröblich ge¬
täuscht habe, als er sagte, daß der Kern des Osmanenthnms noch frisch und
gesund und zu eiuer bedeutenden Activität in der Geschichte berufen und befähigt sei.

Dadurch nun, daß das Türkenthum seine eigentliche Rolle aufgeben mußte,
und daß diese an Nußland überging, wurde zuerst das slawische Element
in der Türkei aus seiner Lethargie aufgerüttelt. Es erwachte der Gedanke, daß
es einst, mit oder ohne Rußlands Beihilfe, doch gelingen könne, sich die Selbst-
ständigkeit zu erringen und das durch Rußland bereits gebrochene Joch des
Türkeuthums völlig abzuschütteln. Dieser Gedanke kam in Serbien schon vor
einem halben Jahrhundert zur Reife; Serbien machte sich zuerst frei, und zwar,
was wichtig ist, ohne jede Mitwirkung Rußlands, dessen Politik unter Alexander
eine völlig unnationale und Rußlands Interessen schnurstraks zuwiderlaufende war.
Der Serben Beispiel fand Nachahmung bei den Griechen, stille Theilnahme bei


in Oestreich, die Zusammensetzung des Staates aus völlig heterogenen Theilen,
deren jeder seiue Souderinteressen und keiner einen bedeutenden Mittelpunkt hatte,
außer dem Osmanisch-nationalen und Muhamedanisch-religiösen Elemente. So
lange der Osmanische Stamm erobernd auftrat und durch seine physische Kraft
den übrigen Stämmen imponirte; so lange der Islam voll fatalistischer Sicherheit
sich als das erhaltende Princip des Staates geltend machte und dadurch jedes
Auskommen des christlichen Elementes zu hindern vermochte, war die Türkei groß
und mächtig, traten keine religiösen und nationalen Differenzen hervor und schienen
vom Türkeuthume gänzlich absorbirt zu sein. Aber schon die Oestreichisch-Türkischen
Kriege veränderten diese Situation; es war hier das slawische Element, welches
dem Eroberungsgauge des Türkeuthums Halt gebot, welches ihm Ungarn entriß
und, wenn eine Verständigung zwischen den Türkischen Slawen und dem Deutschen
Kaiserthum möglich gewesen wäre, es schon damals ans ein sehr engss Terrain
eingeschränkt hätte. Dies unterblieb aber; die Türkischen Slawen hatten keinen
Centralpunkt gewonnen, die Einigung war unmöglich. Nun war es aber Ruß-
land, welches seinerseits die Rolle übernahm, die Türkei zu Grunde zu richten,
indem es die Grundbedingung der Existenz des Türkeuthums, das Eroberungs-
priucip, an der Wurzel angriff und selbst zu erobern anfing. Wenn es Peter
der Große noch als ein Glück ansehen mußte, sich durch den Frieden von Hnsti
(12! Juli 1711) gerettet zu haben, so war schon die Lage seiner nächsten Nach¬
folger eine andere geworden: nun waren eS die Türken, welche bei jedem Kriege,
in jedem Friedensschlüsse Verluste erlitten; deren Reich immer mehr und mehr
geschmälert wurde, so daß endlich die „Moskowi" selbst in Stambul ihre nächsten
Nachbarn wurden und sie froh sein mußten, wenn Rußland ihnen nicht die
Metropole bedrohte oder gar entriß. Sie wurden in eine rein defensive Stellung
gedrängt; die Zuversicht, die Siegesgewißheit, das Selbstbewußtsein des Türkeu¬
thums war dahin für immer, und bei aller unserer persönlichen Achtung für den
geistvollen „Fragmentisten" wagen wir es zu behaupten, daß er sich gröblich ge¬
täuscht habe, als er sagte, daß der Kern des Osmanenthnms noch frisch und
gesund und zu eiuer bedeutenden Activität in der Geschichte berufen und befähigt sei.

Dadurch nun, daß das Türkenthum seine eigentliche Rolle aufgeben mußte,
und daß diese an Nußland überging, wurde zuerst das slawische Element
in der Türkei aus seiner Lethargie aufgerüttelt. Es erwachte der Gedanke, daß
es einst, mit oder ohne Rußlands Beihilfe, doch gelingen könne, sich die Selbst-
ständigkeit zu erringen und das durch Rußland bereits gebrochene Joch des
Türkeuthums völlig abzuschütteln. Dieser Gedanke kam in Serbien schon vor
einem halben Jahrhundert zur Reife; Serbien machte sich zuerst frei, und zwar,
was wichtig ist, ohne jede Mitwirkung Rußlands, dessen Politik unter Alexander
eine völlig unnationale und Rußlands Interessen schnurstraks zuwiderlaufende war.
Der Serben Beispiel fand Nachahmung bei den Griechen, stille Theilnahme bei


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[0266] in Oestreich, die Zusammensetzung des Staates aus völlig heterogenen Theilen, deren jeder seiue Souderinteressen und keiner einen bedeutenden Mittelpunkt hatte, außer dem Osmanisch-nationalen und Muhamedanisch-religiösen Elemente. So lange der Osmanische Stamm erobernd auftrat und durch seine physische Kraft den übrigen Stämmen imponirte; so lange der Islam voll fatalistischer Sicherheit sich als das erhaltende Princip des Staates geltend machte und dadurch jedes Auskommen des christlichen Elementes zu hindern vermochte, war die Türkei groß und mächtig, traten keine religiösen und nationalen Differenzen hervor und schienen vom Türkeuthume gänzlich absorbirt zu sein. Aber schon die Oestreichisch-Türkischen Kriege veränderten diese Situation; es war hier das slawische Element, welches dem Eroberungsgauge des Türkeuthums Halt gebot, welches ihm Ungarn entriß und, wenn eine Verständigung zwischen den Türkischen Slawen und dem Deutschen Kaiserthum möglich gewesen wäre, es schon damals ans ein sehr engss Terrain eingeschränkt hätte. Dies unterblieb aber; die Türkischen Slawen hatten keinen Centralpunkt gewonnen, die Einigung war unmöglich. Nun war es aber Ruß- land, welches seinerseits die Rolle übernahm, die Türkei zu Grunde zu richten, indem es die Grundbedingung der Existenz des Türkeuthums, das Eroberungs- priucip, an der Wurzel angriff und selbst zu erobern anfing. Wenn es Peter der Große noch als ein Glück ansehen mußte, sich durch den Frieden von Hnsti (12! Juli 1711) gerettet zu haben, so war schon die Lage seiner nächsten Nach¬ folger eine andere geworden: nun waren eS die Türken, welche bei jedem Kriege, in jedem Friedensschlüsse Verluste erlitten; deren Reich immer mehr und mehr geschmälert wurde, so daß endlich die „Moskowi" selbst in Stambul ihre nächsten Nachbarn wurden und sie froh sein mußten, wenn Rußland ihnen nicht die Metropole bedrohte oder gar entriß. Sie wurden in eine rein defensive Stellung gedrängt; die Zuversicht, die Siegesgewißheit, das Selbstbewußtsein des Türkeu¬ thums war dahin für immer, und bei aller unserer persönlichen Achtung für den geistvollen „Fragmentisten" wagen wir es zu behaupten, daß er sich gröblich ge¬ täuscht habe, als er sagte, daß der Kern des Osmanenthnms noch frisch und gesund und zu eiuer bedeutenden Activität in der Geschichte berufen und befähigt sei. Dadurch nun, daß das Türkenthum seine eigentliche Rolle aufgeben mußte, und daß diese an Nußland überging, wurde zuerst das slawische Element in der Türkei aus seiner Lethargie aufgerüttelt. Es erwachte der Gedanke, daß es einst, mit oder ohne Rußlands Beihilfe, doch gelingen könne, sich die Selbst- ständigkeit zu erringen und das durch Rußland bereits gebrochene Joch des Türkeuthums völlig abzuschütteln. Dieser Gedanke kam in Serbien schon vor einem halben Jahrhundert zur Reife; Serbien machte sich zuerst frei, und zwar, was wichtig ist, ohne jede Mitwirkung Rußlands, dessen Politik unter Alexander eine völlig unnationale und Rußlands Interessen schnurstraks zuwiderlaufende war. Der Serben Beispiel fand Nachahmung bei den Griechen, stille Theilnahme bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/266>, abgerufen am 09.11.2024.