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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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will, als die Zusammenfassung aller einzelnen historischen Factoren, so wurde es
ihm nie einfallen, sie denselben gegenüber zu stellen.

Bei der Willkür, mit der aus der Totalität eiues Charakters nur die eine
Abstraction hervorgesucht wird, die einer fixen Idee entspricht, ist auch die will¬
kürliche Auswahl der Thatsachen erklärlich; von einer kritischen Sichtung der
Quellen, von einer Unterscheidung des Wichtigen vom Unwichtigen hat er keinen
Begriff. Es geht Alles durch einander, wie ihm gerade bei seiner Lecture das
eine oder das andere Lieblingsstichwort auffällt. Es kommt noch dazu, daß die
Abneigung des Hegelianers gegen den rationalistischen Pragmatismus in dieses
chaotische Gewebe die Kategorie der Nothwendigkeit einzuführen sucht. Bei Hegel
selbst bezieht sich diese Kategorie, mit der man immer sehr vorsichtig umgehen
muß, nur auf das Große und Positive der Geschichte; auch schon bei ihm führt
es oft genug zu den wunderbarsten Irrthümern, weil die falsche Idee hineinge¬
legt wird, die Nothwendigkeit beruhe in der systematischen Entwickelung eines
bestimmten Princips, während in der Welt der Erscheinung die Quellen der Ent¬
wickelung von verschiedenen Seiten hergeleitet werden müssen. Aber noch viel
abenteuerlicher nimmt sich diese Nothwendigkeit aus, wenn sie sich ans das absolut
Zufällige und Nichtige bezieht. Vor dieser wunderlichen Ehrenrettung des Ein¬
fältigen und Abgeschmackten ans einer blos dogmatischen Grille müssen wir um
so mehr erstaunen, da von Zeit zu Zeit die vollkommen richtige Idee dazwischen
kommt. So weist er z. B. einmal die Klagen der Revolutionairs, daß die Re¬
volution nichts Bleibendes geschaffen habe, vollkommen richtig durch die Be¬
merkung zurück: "Als ob gestaltlose Riesenwellen geschichtliche Gestaltung schaffen
können, und nicht vielmehr endlich ermatten, sich legen und die geschichtlichen
Marksteine hervortrete" lassen! Als ob ein Donnerschlag in dem Augenblick, in
dem er in die Luft fährt, der Welt bleibende Gesetze dictiren konnte!" Aber
gleich darauf legt er dieses allgemeine Gesetz jeder Revolution der Niederträchtig¬
keit des Deutschen Volks zur Last. So sagt er ferner ganz richtig: "Jede Re¬
volution ist in ihrem Ursprung von Illusionen umgeben, Illusionen erleichtern
ihre Geburtswehen, Illusionen verdecken und schützen sie auf ihrem Fortschritt
und gewinnen ihr Theilnehmer, deren Unterstützung sie ohne diese Hülle ihres
Kerns würde entbehren müssen. Die Revolution gebraucht endlich die weiter¬
reichende Triebkraft der Illusionen, um das Uebermaß der angespannten Kräfte
desto sicherer zur Erreichung des Ziels zu benutzen, welches niemals an der
Grenze der Illusionen, sondern innerhalb des von ihnen gezogenen Kreises
liegt." -- Aber gleich darauf geräth er außer sich über die Illusionen der extre¬
men Parteien und ebenso außer sich über die Nüchternheit der Gemäßigten,
welche dieselbe Einlicht, die er als Kritiker gefunden, mitten im Sturm der ge¬
schichtlichen Bewegung anticipirt habe". So streitet bei ihm fortwährend der
philosophisch gebildete Denker mit dem forcirten Satyriker, und dieser Streit


will, als die Zusammenfassung aller einzelnen historischen Factoren, so wurde es
ihm nie einfallen, sie denselben gegenüber zu stellen.

Bei der Willkür, mit der aus der Totalität eiues Charakters nur die eine
Abstraction hervorgesucht wird, die einer fixen Idee entspricht, ist auch die will¬
kürliche Auswahl der Thatsachen erklärlich; von einer kritischen Sichtung der
Quellen, von einer Unterscheidung des Wichtigen vom Unwichtigen hat er keinen
Begriff. Es geht Alles durch einander, wie ihm gerade bei seiner Lecture das
eine oder das andere Lieblingsstichwort auffällt. Es kommt noch dazu, daß die
Abneigung des Hegelianers gegen den rationalistischen Pragmatismus in dieses
chaotische Gewebe die Kategorie der Nothwendigkeit einzuführen sucht. Bei Hegel
selbst bezieht sich diese Kategorie, mit der man immer sehr vorsichtig umgehen
muß, nur auf das Große und Positive der Geschichte; auch schon bei ihm führt
es oft genug zu den wunderbarsten Irrthümern, weil die falsche Idee hineinge¬
legt wird, die Nothwendigkeit beruhe in der systematischen Entwickelung eines
bestimmten Princips, während in der Welt der Erscheinung die Quellen der Ent¬
wickelung von verschiedenen Seiten hergeleitet werden müssen. Aber noch viel
abenteuerlicher nimmt sich diese Nothwendigkeit aus, wenn sie sich ans das absolut
Zufällige und Nichtige bezieht. Vor dieser wunderlichen Ehrenrettung des Ein¬
fältigen und Abgeschmackten ans einer blos dogmatischen Grille müssen wir um
so mehr erstaunen, da von Zeit zu Zeit die vollkommen richtige Idee dazwischen
kommt. So weist er z. B. einmal die Klagen der Revolutionairs, daß die Re¬
volution nichts Bleibendes geschaffen habe, vollkommen richtig durch die Be¬
merkung zurück: „Als ob gestaltlose Riesenwellen geschichtliche Gestaltung schaffen
können, und nicht vielmehr endlich ermatten, sich legen und die geschichtlichen
Marksteine hervortrete» lassen! Als ob ein Donnerschlag in dem Augenblick, in
dem er in die Luft fährt, der Welt bleibende Gesetze dictiren konnte!" Aber
gleich darauf legt er dieses allgemeine Gesetz jeder Revolution der Niederträchtig¬
keit des Deutschen Volks zur Last. So sagt er ferner ganz richtig: „Jede Re¬
volution ist in ihrem Ursprung von Illusionen umgeben, Illusionen erleichtern
ihre Geburtswehen, Illusionen verdecken und schützen sie auf ihrem Fortschritt
und gewinnen ihr Theilnehmer, deren Unterstützung sie ohne diese Hülle ihres
Kerns würde entbehren müssen. Die Revolution gebraucht endlich die weiter¬
reichende Triebkraft der Illusionen, um das Uebermaß der angespannten Kräfte
desto sicherer zur Erreichung des Ziels zu benutzen, welches niemals an der
Grenze der Illusionen, sondern innerhalb des von ihnen gezogenen Kreises
liegt." — Aber gleich darauf geräth er außer sich über die Illusionen der extre¬
men Parteien und ebenso außer sich über die Nüchternheit der Gemäßigten,
welche dieselbe Einlicht, die er als Kritiker gefunden, mitten im Sturm der ge¬
schichtlichen Bewegung anticipirt habe». So streitet bei ihm fortwährend der
philosophisch gebildete Denker mit dem forcirten Satyriker, und dieser Streit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/258>, abgerufen am 27.07.2024.