Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.Stellung dieser Art gar nicht zugetraut hatte, als weil es ihr wirklich gelungen Stellung dieser Art gar nicht zugetraut hatte, als weil es ihr wirklich gelungen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0180" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91373"/> <p xml:id="ID_499" prev="#ID_498" next="#ID_500"> Stellung dieser Art gar nicht zugetraut hatte, als weil es ihr wirklich gelungen<lb/> wäre, ein vollständig genügendes Bild dieses Charakters hinzustellen. Ihr Genre<lb/> schließt das Tragische nicht ans, aber das Heroische; in der Darstellung lieblicher<lb/> und weicher Frauennaturen findet sie ihren eigentlichen Beruf, mag diesen die<lb/> Ogm-g, duM oder die Opera seria, zum Rahmen dienen. Ihre Stimme hat<lb/> keinen besonders bemerkenswerthen, aber hinreichenden Umfang; sie ist nur mäßig<lb/> stark, füllt aber einen nicht allzu großen Raum; am Schönsten ist die Mittellage,<lb/> den zweiten Rang nehmen die tiefen Töne ein. Die technische Gesangausbildung<lb/> ist höchst solid; wenn gleich unsere Künstlerin es nicht zu so schwindelnder Geläu¬<lb/> figkeit gebracht hat, wie die Viardot oder wie Madame de la Grange, so leistet<lb/> sie doch nicht wenig, führt Alles, worauf sie sich überhaupt einläßt, mit großer<lb/> Sauberkeit aus, und ist namentlich in den Kunstfertigkeiten vortrefflich, die einem<lb/> gröberen Ohre leicht entgehen, in der Tongebuug, im Gebrauch des Portaments<lb/> und dergleichen. Im Besitz so vieler technischen" Vorzüge würde sie eine<lb/> ausgezeichnete Conccrtsängerin sein, wenn sie nicht eine dramatische wäre.<lb/> Der Concerigesang beruht wesentlich auf den Aeußerlichkeiten der Tonkunst, und<lb/> die Castellan hatte diese nur als Mittel zum Zwecke, nicht um ihrer selbst willen<lb/> ..ausgebildet. Wir haben selteu eine Sängerin gehört, die die beiden Klippen<lb/> dramatischer Auffassung so glücklich zu vermeiden verstand, als sie; nie schritt sie<lb/> in der Darstellung der Liebe oder des Zorns oder des Wahnsinns bis zum<lb/> Extremen und Häßlichen, und nie, anch in den weniger hervortretenden Momen¬<lb/> ten, war ihr Gesang nur Gesang, sie gab ihm stets eine der Situation ange¬<lb/> messene , wenn auch nur leise durchschimmernde Färbung. Freilich erst bei auf¬<lb/> merksamerem Hören, als der Mehrzahl zuzumuthen ist, lernte man das feine,<lb/> durchdringende Studium dieser Künstlerin vollständig kennen, wie sie kein Wort<lb/> unbedeutend, mit gleichgiltigem oder sinnwidrigem Accent sang; die dramatische<lb/> Seele des Ganzen verbreitete sich über den ganzen Organismus/ und schimmerte<lb/> in milder Klarheit durch. Die Viardot und die Lind gaben allen ihren Leistun¬<lb/> gen ein individuelles Gepräge; je bedeutender die Persönlichkeit beider Sängerinnen<lb/> war, desto interessanter wurden ihre dramatischen Schöpfungen; die schwärmerische<lb/> Schwedin, die glühende Spanierin erregten durch sich selbst eben so viel und<lb/> vielleicht noch mehr Interesse, als durch deu Charakter, den sie darzustellen hatten.<lb/> Der Romantiker wird in weit höherem Grade dadurch gereizt, als durch eine<lb/> simple Lösung einer gegebenen Aufgabe, aus der jed.e Spur einer hervortreten¬<lb/> den Persönlichkeit verschwunden ist. Und'doch ist dies von rein künstlerischem<lb/> Standpunkte aus das zu Fordernde, daß der Schauspieler oder Sänger den<lb/> gegebenen Charakter nicht nach seiner Persönlichkeit umgestalte, sondern vielmehr<lb/> sich selbst ganz und gar zu dem darzustellenden Charakter mache. Dies gelingt<lb/> der Castellau — natürlich in dem Genre, dem sie überhaupt gewachsen ist. Sie<lb/> bringt keine Persönlichkeit mit, die für sich selbst interessirt; sie gibt das, was</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0180]
Stellung dieser Art gar nicht zugetraut hatte, als weil es ihr wirklich gelungen
wäre, ein vollständig genügendes Bild dieses Charakters hinzustellen. Ihr Genre
schließt das Tragische nicht ans, aber das Heroische; in der Darstellung lieblicher
und weicher Frauennaturen findet sie ihren eigentlichen Beruf, mag diesen die
Ogm-g, duM oder die Opera seria, zum Rahmen dienen. Ihre Stimme hat
keinen besonders bemerkenswerthen, aber hinreichenden Umfang; sie ist nur mäßig
stark, füllt aber einen nicht allzu großen Raum; am Schönsten ist die Mittellage,
den zweiten Rang nehmen die tiefen Töne ein. Die technische Gesangausbildung
ist höchst solid; wenn gleich unsere Künstlerin es nicht zu so schwindelnder Geläu¬
figkeit gebracht hat, wie die Viardot oder wie Madame de la Grange, so leistet
sie doch nicht wenig, führt Alles, worauf sie sich überhaupt einläßt, mit großer
Sauberkeit aus, und ist namentlich in den Kunstfertigkeiten vortrefflich, die einem
gröberen Ohre leicht entgehen, in der Tongebuug, im Gebrauch des Portaments
und dergleichen. Im Besitz so vieler technischen" Vorzüge würde sie eine
ausgezeichnete Conccrtsängerin sein, wenn sie nicht eine dramatische wäre.
Der Concerigesang beruht wesentlich auf den Aeußerlichkeiten der Tonkunst, und
die Castellan hatte diese nur als Mittel zum Zwecke, nicht um ihrer selbst willen
..ausgebildet. Wir haben selteu eine Sängerin gehört, die die beiden Klippen
dramatischer Auffassung so glücklich zu vermeiden verstand, als sie; nie schritt sie
in der Darstellung der Liebe oder des Zorns oder des Wahnsinns bis zum
Extremen und Häßlichen, und nie, anch in den weniger hervortretenden Momen¬
ten, war ihr Gesang nur Gesang, sie gab ihm stets eine der Situation ange¬
messene , wenn auch nur leise durchschimmernde Färbung. Freilich erst bei auf¬
merksamerem Hören, als der Mehrzahl zuzumuthen ist, lernte man das feine,
durchdringende Studium dieser Künstlerin vollständig kennen, wie sie kein Wort
unbedeutend, mit gleichgiltigem oder sinnwidrigem Accent sang; die dramatische
Seele des Ganzen verbreitete sich über den ganzen Organismus/ und schimmerte
in milder Klarheit durch. Die Viardot und die Lind gaben allen ihren Leistun¬
gen ein individuelles Gepräge; je bedeutender die Persönlichkeit beider Sängerinnen
war, desto interessanter wurden ihre dramatischen Schöpfungen; die schwärmerische
Schwedin, die glühende Spanierin erregten durch sich selbst eben so viel und
vielleicht noch mehr Interesse, als durch deu Charakter, den sie darzustellen hatten.
Der Romantiker wird in weit höherem Grade dadurch gereizt, als durch eine
simple Lösung einer gegebenen Aufgabe, aus der jed.e Spur einer hervortreten¬
den Persönlichkeit verschwunden ist. Und'doch ist dies von rein künstlerischem
Standpunkte aus das zu Fordernde, daß der Schauspieler oder Sänger den
gegebenen Charakter nicht nach seiner Persönlichkeit umgestalte, sondern vielmehr
sich selbst ganz und gar zu dem darzustellenden Charakter mache. Dies gelingt
der Castellau — natürlich in dem Genre, dem sie überhaupt gewachsen ist. Sie
bringt keine Persönlichkeit mit, die für sich selbst interessirt; sie gibt das, was
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