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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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buntes, der mehr und mehr eine Stütze für invalide Sänger zu werden scheint.
Im "Bundeshause" finden fast allwöchentlich Concerte Statt, denen sich ein Ball
anschließt; es würde sich selbst ein Sänger, der den reactionairsten Kreisen an¬
gehörte, compromittiren, wenn er in diesem Local und vor diesem Publicum singen
wollte; so weit ist es mit dem Bodensatz der conservativen Partei gekommen. --
Die Wintergarten-Concerte, die noch vor drei, vier Jahren in vollster Blüthe
standen, finden ein immer kleineres Publicum; selbst Joseph Gungl. Auch
bei Liebig hat sich Manches verändert. Ju früheren Zeiten wurde das Publicum
mit eiuer Symphonie abgespeist; der übrige Theil des Concerts bestand aus
Tänzen, Pvtponrri's und dergleichen Unterhaltungsmusik. So bescheiden sind die
Ansprüche gegenwärtig nicht mehr. Das Programm muß aus lauter classischen
Kompositionen zusammengestellt werden. Mit großer Andacht verfolgen die Zu¬
hörer bei Bier und Tabak die oft ziemlich schlechte Ausführung. -- Die wachsende
Neigung für classische Instrumental-Kompositionen zeigt sich anch in dem gesell¬
schaftlichen Leben. Bloße Coucertstücke, inhaltslose Lieder n. tgi. werden immer
verachteter; es ist zum Theil Affectation, aber doch nicht ganz; denn wo die
Mustk mit so bedeutendem Zeitaufwand getrieben wird, muß zuletzt auch, in flacheren
Naturen ein Ueberdruß an dem Flachen entstehen. Daneben nimmt auch die
Neigung zu ernsteren Gesangstudien zu; denn das Gefühl, daß der Gesang der
eigentliche Mittelpunkt der Musik ist, läßt sich trotz aller Romantik nicht verdrängen;
der uncultivirte Gesang aber kann sich der glänzenden Instrumental-Technik gegen¬
über nicht behaupten. Die Zahl der kleinen Gesangvereine mehrt sich, vielleicht
zum Nachtheil der großen; leider aber fehlt es an Vereinen, die irgend ein Princip
mit Bestimmtheit und Konsequenz festhalten.

Dieitalienische Oper entspricht, im Ganzen genommen, nie den Forderungen,
die Berlin zu machen berechtigt ist. Das Publicum hat noch nie ein so lebendiges
und allgemeines Interesse sür Italiens Sänger an den Tag gelegt, daß die
Direction Sänger ersten Ranges hätte engagiren können; und dieser Umstand
wieder bewirkt es, daß die Theilnahme lau bleibt. Es käme auf den kühnen
Schritt an, daß die Direction für eiuen Winter es wagte, ein ausgezeichnetes
Ensemble herzustellen; vielleicht würde dadurch die italienische Oper für die ganze
Folgezeit eine andere Stellung erhalten. Das heutige Publicum derselben ist
klein und besteht zum Theil aus nicht sehr angenehmen Elementen, die durch die
Lage des Köuigstädtischen Theaters herbeigezogen werden. Auch in diesem Winter
vermochte die Costellan das Hans nicht zu füllen; sie wurde eine gefeierte, aber
keine populaire Künstlerin. Trotzdem ist Marie Castellan in ihrem Fache fast
vollendet. Unter den Rollen, die sie hier gab, waren die Nachtwandlerin, die
Elvira in den Puritanern, Linda ti Chamouni, die Rosine im Barbier, die
Nerina im Don Pasquale ihre besten Leistungen; weniger genügte sie schon als
Desdemona, und als Norma interessirte sie mehr darum, weil man ihr eine Dar-


buntes, der mehr und mehr eine Stütze für invalide Sänger zu werden scheint.
Im „Bundeshause" finden fast allwöchentlich Concerte Statt, denen sich ein Ball
anschließt; es würde sich selbst ein Sänger, der den reactionairsten Kreisen an¬
gehörte, compromittiren, wenn er in diesem Local und vor diesem Publicum singen
wollte; so weit ist es mit dem Bodensatz der conservativen Partei gekommen. —
Die Wintergarten-Concerte, die noch vor drei, vier Jahren in vollster Blüthe
standen, finden ein immer kleineres Publicum; selbst Joseph Gungl. Auch
bei Liebig hat sich Manches verändert. Ju früheren Zeiten wurde das Publicum
mit eiuer Symphonie abgespeist; der übrige Theil des Concerts bestand aus
Tänzen, Pvtponrri's und dergleichen Unterhaltungsmusik. So bescheiden sind die
Ansprüche gegenwärtig nicht mehr. Das Programm muß aus lauter classischen
Kompositionen zusammengestellt werden. Mit großer Andacht verfolgen die Zu¬
hörer bei Bier und Tabak die oft ziemlich schlechte Ausführung. — Die wachsende
Neigung für classische Instrumental-Kompositionen zeigt sich anch in dem gesell¬
schaftlichen Leben. Bloße Coucertstücke, inhaltslose Lieder n. tgi. werden immer
verachteter; es ist zum Theil Affectation, aber doch nicht ganz; denn wo die
Mustk mit so bedeutendem Zeitaufwand getrieben wird, muß zuletzt auch, in flacheren
Naturen ein Ueberdruß an dem Flachen entstehen. Daneben nimmt auch die
Neigung zu ernsteren Gesangstudien zu; denn das Gefühl, daß der Gesang der
eigentliche Mittelpunkt der Musik ist, läßt sich trotz aller Romantik nicht verdrängen;
der uncultivirte Gesang aber kann sich der glänzenden Instrumental-Technik gegen¬
über nicht behaupten. Die Zahl der kleinen Gesangvereine mehrt sich, vielleicht
zum Nachtheil der großen; leider aber fehlt es an Vereinen, die irgend ein Princip
mit Bestimmtheit und Konsequenz festhalten.

Dieitalienische Oper entspricht, im Ganzen genommen, nie den Forderungen,
die Berlin zu machen berechtigt ist. Das Publicum hat noch nie ein so lebendiges
und allgemeines Interesse sür Italiens Sänger an den Tag gelegt, daß die
Direction Sänger ersten Ranges hätte engagiren können; und dieser Umstand
wieder bewirkt es, daß die Theilnahme lau bleibt. Es käme auf den kühnen
Schritt an, daß die Direction für eiuen Winter es wagte, ein ausgezeichnetes
Ensemble herzustellen; vielleicht würde dadurch die italienische Oper für die ganze
Folgezeit eine andere Stellung erhalten. Das heutige Publicum derselben ist
klein und besteht zum Theil aus nicht sehr angenehmen Elementen, die durch die
Lage des Köuigstädtischen Theaters herbeigezogen werden. Auch in diesem Winter
vermochte die Costellan das Hans nicht zu füllen; sie wurde eine gefeierte, aber
keine populaire Künstlerin. Trotzdem ist Marie Castellan in ihrem Fache fast
vollendet. Unter den Rollen, die sie hier gab, waren die Nachtwandlerin, die
Elvira in den Puritanern, Linda ti Chamouni, die Rosine im Barbier, die
Nerina im Don Pasquale ihre besten Leistungen; weniger genügte sie schon als
Desdemona, und als Norma interessirte sie mehr darum, weil man ihr eine Dar-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/179>, abgerufen am 01.09.2024.