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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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duftige Morgen zum Blüthenschmuck des Frühlings. Der Katholik mag vor
diesem Bilde sein Ave Maria empfinden. Die Schatten fallen lang und scharf
gezeichnet nach der Seite, in den Tiefen des Haines verlieren die Formen an
Bestimmtheit, in die Gründe des jenseitigen Gebirges senken sich die bläulichen
Schatten des Abends. Aber wie ganz anders ist diese schattige Kühle im Vergleich
zu der des ersten Bildes! Im Herbst und gegen Abend erscheint sie weniger dnstvoll
und nebelhaft, dagegen gesättigter und colorirter. Ueber den Himmel zerstreut sich
das Gewölk, als breite es sich aus, um dann durch die Anziehungskraft der Theile
sich zu einer leichten Decke auszudehnen.

Den Winter malt der Künstler am späten Abend bei Heller, aber kalter
Mondbeleuchtung. Ein Thal am Fuße des Gebirges nimmt uns aus. Den
Borgrund bildet der Saum eiues Waldes, aus dem wir auf eine bewohnte
Gegend blicken. Unbelaubt und starr strecken die alten Stämme ihre knorrigen
Aeste in die Luft. Der Boden hat sich in ein Gewand von Schnee gehüllt, der,
im abendlichen Froste hart gefroren, nur vereinzelten dürrem Gezweig gestattet,
hiu und wieder ans der einförmigen Decke Hervorzulugen. Im Mittelgrunde
liegt ein Dörfchen, ans dem ein Paar Lichter herüberblinkeu. Das eine dringt
zu uns aus deu Fenstern einer niedern Bauernhütte, das andere aus der offenen
Thür der kleinen Kirche, deren Fnedhvf sich mit seinen winzigen, halb vou Schnee
umhüllten Kreuzer bis zum Saum des Waldes dehnt. In der Kirche mag man
"me Todtenfeier halten. -- Baumgruppen umgeben den Wohnplatz der Menschen,
und ein in der dicken Schneeluft halb verschwindendes Gebirge schließt die Aus¬
sicht. Am Himmel zieht ein flockig graues Gewölk, aus dem der Mond seine
glänzende Scheibe hervordrängt. Die letzten Zeichen des zur Ruhe sich zurück¬
ziehenden Lebens der Natur wie des Menschen, und die Mahnung an des
Letztern ewige Ruhe vereinigen sich zu jener poetischen Symbolik, welche den
Mizen Cyklus der vier Bilder durchatymet, indem sie die Natur in der Natur
wiederspiegelt.

Alle echte Kunst ist in gewissem Sinne symbolisch. Sie soll es nur nicht
in solcher Weise sein, daß sie dem Unsinnlichen willkürliche Formen, Gestaltungen
und Darstellungen erschafft, welche in ihrer sinnlichen Erscheinung den Stempel
des Unwirklichen und Unwahren an der Stirn tragen, sie soll es nicht in solcher
Weise sein, daß sie das Wirkliche, Lebendige zum an sich wesenlosen Gefäß eines
übersinnlichen Inhalts erniedrigt. Ganz anders und in voller Harmonie mit der
dargestellten Wirklichkeit hat Calame den symbolischen Geist seines Bildes ein¬
fügen. Wie jede rein künstlerische Natur ist er von wirklichen Erscheinungen
des Daseins ausgegangen, und hat die in Uebereinstimmung mit ihrem Wesen
und Charakter in ihm aufsteigenden Gedanken in die Auffassung und Darstellung
der erstem mit einfließen lassen. Die schöpferische Phantasie des Künstlers hat
ihre geistig verbindende und gestaltende Kraft an den vier Kunstwerken bewährt,


duftige Morgen zum Blüthenschmuck des Frühlings. Der Katholik mag vor
diesem Bilde sein Ave Maria empfinden. Die Schatten fallen lang und scharf
gezeichnet nach der Seite, in den Tiefen des Haines verlieren die Formen an
Bestimmtheit, in die Gründe des jenseitigen Gebirges senken sich die bläulichen
Schatten des Abends. Aber wie ganz anders ist diese schattige Kühle im Vergleich
zu der des ersten Bildes! Im Herbst und gegen Abend erscheint sie weniger dnstvoll
und nebelhaft, dagegen gesättigter und colorirter. Ueber den Himmel zerstreut sich
das Gewölk, als breite es sich aus, um dann durch die Anziehungskraft der Theile
sich zu einer leichten Decke auszudehnen.

Den Winter malt der Künstler am späten Abend bei Heller, aber kalter
Mondbeleuchtung. Ein Thal am Fuße des Gebirges nimmt uns aus. Den
Borgrund bildet der Saum eiues Waldes, aus dem wir auf eine bewohnte
Gegend blicken. Unbelaubt und starr strecken die alten Stämme ihre knorrigen
Aeste in die Luft. Der Boden hat sich in ein Gewand von Schnee gehüllt, der,
im abendlichen Froste hart gefroren, nur vereinzelten dürrem Gezweig gestattet,
hiu und wieder ans der einförmigen Decke Hervorzulugen. Im Mittelgrunde
liegt ein Dörfchen, ans dem ein Paar Lichter herüberblinkeu. Das eine dringt
zu uns aus deu Fenstern einer niedern Bauernhütte, das andere aus der offenen
Thür der kleinen Kirche, deren Fnedhvf sich mit seinen winzigen, halb vou Schnee
umhüllten Kreuzer bis zum Saum des Waldes dehnt. In der Kirche mag man
«me Todtenfeier halten. — Baumgruppen umgeben den Wohnplatz der Menschen,
und ein in der dicken Schneeluft halb verschwindendes Gebirge schließt die Aus¬
sicht. Am Himmel zieht ein flockig graues Gewölk, aus dem der Mond seine
glänzende Scheibe hervordrängt. Die letzten Zeichen des zur Ruhe sich zurück¬
ziehenden Lebens der Natur wie des Menschen, und die Mahnung an des
Letztern ewige Ruhe vereinigen sich zu jener poetischen Symbolik, welche den
Mizen Cyklus der vier Bilder durchatymet, indem sie die Natur in der Natur
wiederspiegelt.

Alle echte Kunst ist in gewissem Sinne symbolisch. Sie soll es nur nicht
in solcher Weise sein, daß sie dem Unsinnlichen willkürliche Formen, Gestaltungen
und Darstellungen erschafft, welche in ihrer sinnlichen Erscheinung den Stempel
des Unwirklichen und Unwahren an der Stirn tragen, sie soll es nicht in solcher
Weise sein, daß sie das Wirkliche, Lebendige zum an sich wesenlosen Gefäß eines
übersinnlichen Inhalts erniedrigt. Ganz anders und in voller Harmonie mit der
dargestellten Wirklichkeit hat Calame den symbolischen Geist seines Bildes ein¬
fügen. Wie jede rein künstlerische Natur ist er von wirklichen Erscheinungen
des Daseins ausgegangen, und hat die in Uebereinstimmung mit ihrem Wesen
und Charakter in ihm aufsteigenden Gedanken in die Auffassung und Darstellung
der erstem mit einfließen lassen. Die schöpferische Phantasie des Künstlers hat
ihre geistig verbindende und gestaltende Kraft an den vier Kunstwerken bewährt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/9>, abgerufen am 23.07.2024.