Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sehr große, freilich nicht immer auserwählte Gesellschaft, aber die Darstellung
dieser kleinen Welt ist ganz vortrefflich. Sie sind keine Caricatnren und
Scheusale, sondern wirkliche Menschen mit den Tugenden und Fehlern, welche ihr
abenteuerliches Treiben an ihnen ausbildet. Kein anderer Mensch in Deutschland
hätte das vagabondirende Volk so treffend schildern können, es gehörte just Hol-
tei's Persönlichkeit dazu, seiue leichte Empfänglichkeit, seine Laune und Guther¬
zigkeit und die lebhafte Freude an allem Drolligen und Auffallenden, dazu das
bewegte Reiseleben, welches er selbst geführt hat, um ihn in diesen exclusiver Kreisen
so heimisch und vertraut zu machen. Der Faden des'Romans ist einfach ge¬
sponnen: Anton, ein hübscher Bauerknabc, unehelicher Sohn eines Grafen und aristo¬
kratischer Haltung, ist bei einer alten würdigen Großmutter auf dem Dorfe ausge¬
wachsen , und geht nach ihrem Tode in die Welt, wird Menageriewärter, Kunst¬
reiter ze., hat eine große Menge lustiger und tragischer Abenteuer, lernt als Geigen¬
spieler eines Tanzmeisters seine Geliebte kennen, findet als Genosse eines alten
Puppenspielers seine Mutter wieder, die er aber erst nach ihrem Tode erkennt,
kommt in tragische Conflicte mit seinem legitimen Halbbruder? wird nach dem
Tode seines Vaters durch seine edle Stiefmutter Eigenthümer des Rittergutes,
auf welchem er als Bauerknabe erwuchs, lernt als glücklicher Familienvater unsren
Meister Holtei kennen, und übergiebt Diesem mit vieler Herzlichkeit seine Memoiren
zur Bearbeitung nud Herausgabe, was sehr verständig von ihm war. Die merk¬
würdigen Familienverhältnisse des Helden sind uns, ehrlich gesagt, nicht so inte¬
ressant, als seine Abenteuer, obgleich Holtei in diesem Romane mit Glück seine kleine
Schwäche, die Sentimentalität, zurückgedrängt hat. Die künstlerische Anordnung
der Handlung hat ihm offenbar nicht in erster Linie gestanden, und die Charakteristik
der Menschen, welche im geraden Gleise des bürgerlichen Lebens fortgehen, ist nicht
immer gelungen. Auch macht er sich'S leicht, Leute zusammen und aus einander zu brin¬
gen; die lustigen Vagabunden stoßen auf allen Straßen an einander, und solche Per¬
sonen, welche für den weitern Verlauf des Romans unnütz werden, beseitigt er, dem
Leser zu Liebe, mit wahrhaft orientalischer Gemüthlichkeit, er läßt sie rücksichtslos
sterben, und da sehr viele Menschen darin austreten, so müssen uns auch viele
diese große Gefälligkeit erweisen. Indeß, da der ganze Roman mehr aus eine
Erzählung von abenteuerlichen Begebenheiten und eine Schilderung merkwürdiger
Zustände augelegt ist, als auf eine tiefgehende psychologische Analyse der vielen,
sich darin herumtreibenden Menschenseelen, so stört das rücksichtsvolle Absterben
den Leser eben nicht sehr, zumal man Holtei's treuherziger Seele vertrauen kann,
daß er die Hauptperson nicht wird untergehen lassen. Ehrlich gesagt, trotz aller
technischen Bedenken und obgleich der Roman durchaus kein Kunstwerk ist, hat
doch diese ganze lebhafte und schlichte Erzählung von wunderlichen Begebenheiten,
der es mehr um das Geschehene, als um die Motivirung desselben zu thun ist,
gerade jetzt bei dem deutschen Dichter wohlgethan. Jedenfalls ist hier eine


sehr große, freilich nicht immer auserwählte Gesellschaft, aber die Darstellung
dieser kleinen Welt ist ganz vortrefflich. Sie sind keine Caricatnren und
Scheusale, sondern wirkliche Menschen mit den Tugenden und Fehlern, welche ihr
abenteuerliches Treiben an ihnen ausbildet. Kein anderer Mensch in Deutschland
hätte das vagabondirende Volk so treffend schildern können, es gehörte just Hol-
tei's Persönlichkeit dazu, seiue leichte Empfänglichkeit, seine Laune und Guther¬
zigkeit und die lebhafte Freude an allem Drolligen und Auffallenden, dazu das
bewegte Reiseleben, welches er selbst geführt hat, um ihn in diesen exclusiver Kreisen
so heimisch und vertraut zu machen. Der Faden des'Romans ist einfach ge¬
sponnen: Anton, ein hübscher Bauerknabc, unehelicher Sohn eines Grafen und aristo¬
kratischer Haltung, ist bei einer alten würdigen Großmutter auf dem Dorfe ausge¬
wachsen , und geht nach ihrem Tode in die Welt, wird Menageriewärter, Kunst¬
reiter ze., hat eine große Menge lustiger und tragischer Abenteuer, lernt als Geigen¬
spieler eines Tanzmeisters seine Geliebte kennen, findet als Genosse eines alten
Puppenspielers seine Mutter wieder, die er aber erst nach ihrem Tode erkennt,
kommt in tragische Conflicte mit seinem legitimen Halbbruder? wird nach dem
Tode seines Vaters durch seine edle Stiefmutter Eigenthümer des Rittergutes,
auf welchem er als Bauerknabe erwuchs, lernt als glücklicher Familienvater unsren
Meister Holtei kennen, und übergiebt Diesem mit vieler Herzlichkeit seine Memoiren
zur Bearbeitung nud Herausgabe, was sehr verständig von ihm war. Die merk¬
würdigen Familienverhältnisse des Helden sind uns, ehrlich gesagt, nicht so inte¬
ressant, als seine Abenteuer, obgleich Holtei in diesem Romane mit Glück seine kleine
Schwäche, die Sentimentalität, zurückgedrängt hat. Die künstlerische Anordnung
der Handlung hat ihm offenbar nicht in erster Linie gestanden, und die Charakteristik
der Menschen, welche im geraden Gleise des bürgerlichen Lebens fortgehen, ist nicht
immer gelungen. Auch macht er sich'S leicht, Leute zusammen und aus einander zu brin¬
gen; die lustigen Vagabunden stoßen auf allen Straßen an einander, und solche Per¬
sonen, welche für den weitern Verlauf des Romans unnütz werden, beseitigt er, dem
Leser zu Liebe, mit wahrhaft orientalischer Gemüthlichkeit, er läßt sie rücksichtslos
sterben, und da sehr viele Menschen darin austreten, so müssen uns auch viele
diese große Gefälligkeit erweisen. Indeß, da der ganze Roman mehr aus eine
Erzählung von abenteuerlichen Begebenheiten und eine Schilderung merkwürdiger
Zustände augelegt ist, als auf eine tiefgehende psychologische Analyse der vielen,
sich darin herumtreibenden Menschenseelen, so stört das rücksichtsvolle Absterben
den Leser eben nicht sehr, zumal man Holtei's treuherziger Seele vertrauen kann,
daß er die Hauptperson nicht wird untergehen lassen. Ehrlich gesagt, trotz aller
technischen Bedenken und obgleich der Roman durchaus kein Kunstwerk ist, hat
doch diese ganze lebhafte und schlichte Erzählung von wunderlichen Begebenheiten,
der es mehr um das Geschehene, als um die Motivirung desselben zu thun ist,
gerade jetzt bei dem deutschen Dichter wohlgethan. Jedenfalls ist hier eine


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0498" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/281115"/>
          <p xml:id="ID_1437" prev="#ID_1436" next="#ID_1438"> sehr große, freilich nicht immer auserwählte Gesellschaft, aber die Darstellung<lb/>
dieser kleinen Welt ist ganz vortrefflich. Sie sind keine Caricatnren und<lb/>
Scheusale, sondern wirkliche Menschen mit den Tugenden und Fehlern, welche ihr<lb/>
abenteuerliches Treiben an ihnen ausbildet. Kein anderer Mensch in Deutschland<lb/>
hätte das vagabondirende Volk so treffend schildern können, es gehörte just Hol-<lb/>
tei's Persönlichkeit dazu, seiue leichte Empfänglichkeit, seine Laune und Guther¬<lb/>
zigkeit und die lebhafte Freude an allem Drolligen und Auffallenden, dazu das<lb/>
bewegte Reiseleben, welches er selbst geführt hat, um ihn in diesen exclusiver Kreisen<lb/>
so heimisch und vertraut zu machen. Der Faden des'Romans ist einfach ge¬<lb/>
sponnen: Anton, ein hübscher Bauerknabc, unehelicher Sohn eines Grafen und aristo¬<lb/>
kratischer Haltung, ist bei einer alten würdigen Großmutter auf dem Dorfe ausge¬<lb/>
wachsen , und geht nach ihrem Tode in die Welt, wird Menageriewärter, Kunst¬<lb/>
reiter ze., hat eine große Menge lustiger und tragischer Abenteuer, lernt als Geigen¬<lb/>
spieler eines Tanzmeisters seine Geliebte kennen, findet als Genosse eines alten<lb/>
Puppenspielers seine Mutter wieder, die er aber erst nach ihrem Tode erkennt,<lb/>
kommt in tragische Conflicte mit seinem legitimen Halbbruder? wird nach dem<lb/>
Tode seines Vaters durch seine edle Stiefmutter Eigenthümer des Rittergutes,<lb/>
auf welchem er als Bauerknabe erwuchs, lernt als glücklicher Familienvater unsren<lb/>
Meister Holtei kennen, und übergiebt Diesem mit vieler Herzlichkeit seine Memoiren<lb/>
zur Bearbeitung nud Herausgabe, was sehr verständig von ihm war. Die merk¬<lb/>
würdigen Familienverhältnisse des Helden sind uns, ehrlich gesagt, nicht so inte¬<lb/>
ressant, als seine Abenteuer, obgleich Holtei in diesem Romane mit Glück seine kleine<lb/>
Schwäche, die Sentimentalität, zurückgedrängt hat. Die künstlerische Anordnung<lb/>
der Handlung hat ihm offenbar nicht in erster Linie gestanden, und die Charakteristik<lb/>
der Menschen, welche im geraden Gleise des bürgerlichen Lebens fortgehen, ist nicht<lb/>
immer gelungen. Auch macht er sich'S leicht, Leute zusammen und aus einander zu brin¬<lb/>
gen; die lustigen Vagabunden stoßen auf allen Straßen an einander, und solche Per¬<lb/>
sonen, welche für den weitern Verlauf des Romans unnütz werden, beseitigt er, dem<lb/>
Leser zu Liebe, mit wahrhaft orientalischer Gemüthlichkeit, er läßt sie rücksichtslos<lb/>
sterben, und da sehr viele Menschen darin austreten, so müssen uns auch viele<lb/>
diese große Gefälligkeit erweisen. Indeß, da der ganze Roman mehr aus eine<lb/>
Erzählung von abenteuerlichen Begebenheiten und eine Schilderung merkwürdiger<lb/>
Zustände augelegt ist, als auf eine tiefgehende psychologische Analyse der vielen,<lb/>
sich darin herumtreibenden Menschenseelen, so stört das rücksichtsvolle Absterben<lb/>
den Leser eben nicht sehr, zumal man Holtei's treuherziger Seele vertrauen kann,<lb/>
daß er die Hauptperson nicht wird untergehen lassen. Ehrlich gesagt, trotz aller<lb/>
technischen Bedenken und obgleich der Roman durchaus kein Kunstwerk ist, hat<lb/>
doch diese ganze lebhafte und schlichte Erzählung von wunderlichen Begebenheiten,<lb/>
der es mehr um das Geschehene, als um die Motivirung desselben zu thun ist,<lb/>
gerade jetzt bei dem deutschen Dichter wohlgethan.  Jedenfalls ist hier eine</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0498] sehr große, freilich nicht immer auserwählte Gesellschaft, aber die Darstellung dieser kleinen Welt ist ganz vortrefflich. Sie sind keine Caricatnren und Scheusale, sondern wirkliche Menschen mit den Tugenden und Fehlern, welche ihr abenteuerliches Treiben an ihnen ausbildet. Kein anderer Mensch in Deutschland hätte das vagabondirende Volk so treffend schildern können, es gehörte just Hol- tei's Persönlichkeit dazu, seiue leichte Empfänglichkeit, seine Laune und Guther¬ zigkeit und die lebhafte Freude an allem Drolligen und Auffallenden, dazu das bewegte Reiseleben, welches er selbst geführt hat, um ihn in diesen exclusiver Kreisen so heimisch und vertraut zu machen. Der Faden des'Romans ist einfach ge¬ sponnen: Anton, ein hübscher Bauerknabc, unehelicher Sohn eines Grafen und aristo¬ kratischer Haltung, ist bei einer alten würdigen Großmutter auf dem Dorfe ausge¬ wachsen , und geht nach ihrem Tode in die Welt, wird Menageriewärter, Kunst¬ reiter ze., hat eine große Menge lustiger und tragischer Abenteuer, lernt als Geigen¬ spieler eines Tanzmeisters seine Geliebte kennen, findet als Genosse eines alten Puppenspielers seine Mutter wieder, die er aber erst nach ihrem Tode erkennt, kommt in tragische Conflicte mit seinem legitimen Halbbruder? wird nach dem Tode seines Vaters durch seine edle Stiefmutter Eigenthümer des Rittergutes, auf welchem er als Bauerknabe erwuchs, lernt als glücklicher Familienvater unsren Meister Holtei kennen, und übergiebt Diesem mit vieler Herzlichkeit seine Memoiren zur Bearbeitung nud Herausgabe, was sehr verständig von ihm war. Die merk¬ würdigen Familienverhältnisse des Helden sind uns, ehrlich gesagt, nicht so inte¬ ressant, als seine Abenteuer, obgleich Holtei in diesem Romane mit Glück seine kleine Schwäche, die Sentimentalität, zurückgedrängt hat. Die künstlerische Anordnung der Handlung hat ihm offenbar nicht in erster Linie gestanden, und die Charakteristik der Menschen, welche im geraden Gleise des bürgerlichen Lebens fortgehen, ist nicht immer gelungen. Auch macht er sich'S leicht, Leute zusammen und aus einander zu brin¬ gen; die lustigen Vagabunden stoßen auf allen Straßen an einander, und solche Per¬ sonen, welche für den weitern Verlauf des Romans unnütz werden, beseitigt er, dem Leser zu Liebe, mit wahrhaft orientalischer Gemüthlichkeit, er läßt sie rücksichtslos sterben, und da sehr viele Menschen darin austreten, so müssen uns auch viele diese große Gefälligkeit erweisen. Indeß, da der ganze Roman mehr aus eine Erzählung von abenteuerlichen Begebenheiten und eine Schilderung merkwürdiger Zustände augelegt ist, als auf eine tiefgehende psychologische Analyse der vielen, sich darin herumtreibenden Menschenseelen, so stört das rücksichtsvolle Absterben den Leser eben nicht sehr, zumal man Holtei's treuherziger Seele vertrauen kann, daß er die Hauptperson nicht wird untergehen lassen. Ehrlich gesagt, trotz aller technischen Bedenken und obgleich der Roman durchaus kein Kunstwerk ist, hat doch diese ganze lebhafte und schlichte Erzählung von wunderlichen Begebenheiten, der es mehr um das Geschehene, als um die Motivirung desselben zu thun ist, gerade jetzt bei dem deutschen Dichter wohlgethan. Jedenfalls ist hier eine

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/498
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/498>, abgerufen am 23.07.2024.