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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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Sie wird am liebsten von solchen Schriftstellern angewendet, die mit ihren Ueber¬
zeugungen nicht ganz aufs Reine gekommen sind, und die daher denjenigen An¬
sichten, die in ihr herrschendes System nicht passen, in einer Nebenfigur einen
Ausdruck verschaffen. In den dogmatischen Ueberzeugungen ist das bei de Maistre
zwar uicht der Fall; die Dialoge sind fast nichts Anderes, als ein beständiger
Vortrag des Grafen selbst, dem die beiden anderen Mitsprecher nicht eine ge¬
schlossene Ueberzeugung, sondern nur eine partielle Unwissenheit entgegensetzen; aber
die Form ist doch nicht unwesentlich. Der große Einfluß jenes Buchs rührt
nämlich keineswegs blos von seinem Inhalt her, den man in hundert theologi¬
schen Büchern eben so oder vielleicht noch gründlicher behandelt finden mochte,
sondern in dem Umstand, daß ein Weltmann, der in den großen Verhältnissen
des Lebens zu Hause ist, und das auch beständig fühlen läßt, den Glanben der
Kirche gleichsam als einen psychologischen Hergang darstellt, und ihn so mit der
seinen Welt vermittelt. Er wählt daher in dem Glauben nur diejenigen Punkte
ans, die den gebildeten Laien interesstren, und weiß trotz dem, daß er die ärg¬
sten Paradoxien der Kirche adoptirt, ihnen dennoch eine Seite abzugewinnen, de¬
ren sich der Mann von Welt nicht zu schämen braucht.

Das Hauptinteresse des Buchs liegt in der Polemik. Natürlich trifft die¬
selbe vorzugsweise die Philosophen des -18. Jahrhunderts. Voltaire wird mit
einem Haß und einer Verachtung behandelt, die sich auf seine künstlerischen Lei¬
stungen eben so erstreckt, als ans seine philosophischen, die aber lebendig genug
ausgeführt ist, um die Partei mit sich fortzureißen. Am schlimmsten ergeht es
Locke. De Maistre hat Scharfsinn und Geist genug, um die einzelnen Schwächen
dieses Denkers lächerlich zu machen; und er hat anch zum Theil Recht, allein er
wacht es sich noch leichter, indem er es mit den Citaten nicht genau nimmt, und
einzelne Stellen aus dem Zusammenhang herausreißt, die in Verbindung mit dem
^ebrigen einen ganz andern Sinn gewinnen. Es ist ihm übrigens später selbst
so ergangen. Indem die Liberalen ihn bekämpften, haben sie ihre Argumente
ZUM Theil ans Stellen gestützt, die er keineswegs in seinem eigenen Namen vor¬
trägt, sondern nur um sie zu ergänzen oder zu berichtigen. -- Von einem Maß
M dieser Polemik ist keine Rede. Er findet unter den Philosophen keinen ein¬
igen ehrlichen Menschen. Das Höchste, was er bei ihnen gelten läßt, ist, daß
sie durch ihre Selbstgefälligkeit und ihren Widerspruchsgeist, der aus dem Pro¬
testantismus hervorgegangen war, sich verleiten lassen, die Sophismen ihres von
Natur rebellischen Herzens für ernsthafte Zweifel zu nehmen, die ihren Grund
im Denken hätten. Er spricht diesem verderbten Herze" alle Fähigkeit ab, das
Schöne und Erhabene zu empfinden, während der Gerechte durch einen innern
Instinct auch in Fragen, zu deren Prüfung ihm alle Kenntnisse abgehen, das
Nichtige treffen soll. -- Die Polemik bleibt aber bei den Philosophen nicht stehen;
sie erstreckt sich eben so auf die Protestanten, die sämmtlich an der Krankheit der


Sie wird am liebsten von solchen Schriftstellern angewendet, die mit ihren Ueber¬
zeugungen nicht ganz aufs Reine gekommen sind, und die daher denjenigen An¬
sichten, die in ihr herrschendes System nicht passen, in einer Nebenfigur einen
Ausdruck verschaffen. In den dogmatischen Ueberzeugungen ist das bei de Maistre
zwar uicht der Fall; die Dialoge sind fast nichts Anderes, als ein beständiger
Vortrag des Grafen selbst, dem die beiden anderen Mitsprecher nicht eine ge¬
schlossene Ueberzeugung, sondern nur eine partielle Unwissenheit entgegensetzen; aber
die Form ist doch nicht unwesentlich. Der große Einfluß jenes Buchs rührt
nämlich keineswegs blos von seinem Inhalt her, den man in hundert theologi¬
schen Büchern eben so oder vielleicht noch gründlicher behandelt finden mochte,
sondern in dem Umstand, daß ein Weltmann, der in den großen Verhältnissen
des Lebens zu Hause ist, und das auch beständig fühlen läßt, den Glanben der
Kirche gleichsam als einen psychologischen Hergang darstellt, und ihn so mit der
seinen Welt vermittelt. Er wählt daher in dem Glauben nur diejenigen Punkte
ans, die den gebildeten Laien interesstren, und weiß trotz dem, daß er die ärg¬
sten Paradoxien der Kirche adoptirt, ihnen dennoch eine Seite abzugewinnen, de¬
ren sich der Mann von Welt nicht zu schämen braucht.

Das Hauptinteresse des Buchs liegt in der Polemik. Natürlich trifft die¬
selbe vorzugsweise die Philosophen des -18. Jahrhunderts. Voltaire wird mit
einem Haß und einer Verachtung behandelt, die sich auf seine künstlerischen Lei¬
stungen eben so erstreckt, als ans seine philosophischen, die aber lebendig genug
ausgeführt ist, um die Partei mit sich fortzureißen. Am schlimmsten ergeht es
Locke. De Maistre hat Scharfsinn und Geist genug, um die einzelnen Schwächen
dieses Denkers lächerlich zu machen; und er hat anch zum Theil Recht, allein er
wacht es sich noch leichter, indem er es mit den Citaten nicht genau nimmt, und
einzelne Stellen aus dem Zusammenhang herausreißt, die in Verbindung mit dem
^ebrigen einen ganz andern Sinn gewinnen. Es ist ihm übrigens später selbst
so ergangen. Indem die Liberalen ihn bekämpften, haben sie ihre Argumente
ZUM Theil ans Stellen gestützt, die er keineswegs in seinem eigenen Namen vor¬
trägt, sondern nur um sie zu ergänzen oder zu berichtigen. — Von einem Maß
M dieser Polemik ist keine Rede. Er findet unter den Philosophen keinen ein¬
igen ehrlichen Menschen. Das Höchste, was er bei ihnen gelten läßt, ist, daß
sie durch ihre Selbstgefälligkeit und ihren Widerspruchsgeist, der aus dem Pro¬
testantismus hervorgegangen war, sich verleiten lassen, die Sophismen ihres von
Natur rebellischen Herzens für ernsthafte Zweifel zu nehmen, die ihren Grund
im Denken hätten. Er spricht diesem verderbten Herze» alle Fähigkeit ab, das
Schöne und Erhabene zu empfinden, während der Gerechte durch einen innern
Instinct auch in Fragen, zu deren Prüfung ihm alle Kenntnisse abgehen, das
Nichtige treffen soll. — Die Polemik bleibt aber bei den Philosophen nicht stehen;
sie erstreckt sich eben so auf die Protestanten, die sämmtlich an der Krankheit der


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[0355] Sie wird am liebsten von solchen Schriftstellern angewendet, die mit ihren Ueber¬ zeugungen nicht ganz aufs Reine gekommen sind, und die daher denjenigen An¬ sichten, die in ihr herrschendes System nicht passen, in einer Nebenfigur einen Ausdruck verschaffen. In den dogmatischen Ueberzeugungen ist das bei de Maistre zwar uicht der Fall; die Dialoge sind fast nichts Anderes, als ein beständiger Vortrag des Grafen selbst, dem die beiden anderen Mitsprecher nicht eine ge¬ schlossene Ueberzeugung, sondern nur eine partielle Unwissenheit entgegensetzen; aber die Form ist doch nicht unwesentlich. Der große Einfluß jenes Buchs rührt nämlich keineswegs blos von seinem Inhalt her, den man in hundert theologi¬ schen Büchern eben so oder vielleicht noch gründlicher behandelt finden mochte, sondern in dem Umstand, daß ein Weltmann, der in den großen Verhältnissen des Lebens zu Hause ist, und das auch beständig fühlen läßt, den Glanben der Kirche gleichsam als einen psychologischen Hergang darstellt, und ihn so mit der seinen Welt vermittelt. Er wählt daher in dem Glauben nur diejenigen Punkte ans, die den gebildeten Laien interesstren, und weiß trotz dem, daß er die ärg¬ sten Paradoxien der Kirche adoptirt, ihnen dennoch eine Seite abzugewinnen, de¬ ren sich der Mann von Welt nicht zu schämen braucht. Das Hauptinteresse des Buchs liegt in der Polemik. Natürlich trifft die¬ selbe vorzugsweise die Philosophen des -18. Jahrhunderts. Voltaire wird mit einem Haß und einer Verachtung behandelt, die sich auf seine künstlerischen Lei¬ stungen eben so erstreckt, als ans seine philosophischen, die aber lebendig genug ausgeführt ist, um die Partei mit sich fortzureißen. Am schlimmsten ergeht es Locke. De Maistre hat Scharfsinn und Geist genug, um die einzelnen Schwächen dieses Denkers lächerlich zu machen; und er hat anch zum Theil Recht, allein er wacht es sich noch leichter, indem er es mit den Citaten nicht genau nimmt, und einzelne Stellen aus dem Zusammenhang herausreißt, die in Verbindung mit dem ^ebrigen einen ganz andern Sinn gewinnen. Es ist ihm übrigens später selbst so ergangen. Indem die Liberalen ihn bekämpften, haben sie ihre Argumente ZUM Theil ans Stellen gestützt, die er keineswegs in seinem eigenen Namen vor¬ trägt, sondern nur um sie zu ergänzen oder zu berichtigen. — Von einem Maß M dieser Polemik ist keine Rede. Er findet unter den Philosophen keinen ein¬ igen ehrlichen Menschen. Das Höchste, was er bei ihnen gelten läßt, ist, daß sie durch ihre Selbstgefälligkeit und ihren Widerspruchsgeist, der aus dem Pro¬ testantismus hervorgegangen war, sich verleiten lassen, die Sophismen ihres von Natur rebellischen Herzens für ernsthafte Zweifel zu nehmen, die ihren Grund im Denken hätten. Er spricht diesem verderbten Herze» alle Fähigkeit ab, das Schöne und Erhabene zu empfinden, während der Gerechte durch einen innern Instinct auch in Fragen, zu deren Prüfung ihm alle Kenntnisse abgehen, das Nichtige treffen soll. — Die Polemik bleibt aber bei den Philosophen nicht stehen; sie erstreckt sich eben so auf die Protestanten, die sämmtlich an der Krankheit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/355>, abgerufen am 23.07.2024.