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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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Jene Sammlung hat in einer doppelten Beziehung Interesse für uns. Ein¬
mal sehen wir daraus, daß sich bei de Maistre der leitende Gedanke mit der
Monomanie einer fixen Idee festgesetzt hatte, und ihn auch in den gewöhnlichsten
Lebensbeziehungen nicht verließ, daß er aber neben seiner Doctrin, die ihn häufig
zu den ausschweifendsten und bösartigsten Behauptungen verleitete, im Uebrigen
eine große Bonhommie besaß. Er zeigt sich überall nicht als ein Mann der That,
oder anch mir des festen Willens, sondern als ein Grübler, der sein System für
sich wirken laßt, und seinen Gedanken, die ihn verfolgen, ihn beunruhigen und
ermüden, dort einen freien Spielplatz giebt, ohne ihren wettern Verlauf im prak¬
tische" Leben zu verfolgen. >>" vouclrais voriloir, sagt er einmal, mais,i"z t'tuis
par psnser. Diese unpraktische Natur ist sehr geeignet, ein einseitiges,
aber energisches System hervorzubringen, mit welchem dann eine ins praktische
Leben greifende Schule weiter operirt; sie ist eben so geneigt, in Fällen, wo sie
nothwendig ans der Apathie ihres Systems heraustreten muß, nach allen Seiten
hin Concessionen zu macheu, und sich in ihrem Handeln dnrch die Zufälligkeit der
äußeren Umstände bestimmen zu lassen. Die moralische Gewalt, den Menschen zu
einer Totalität, zu einem Charakter zu erheben, der in keinem gegebenen Fall
zweifelt, hat ein einseitiges System nicht, so lauge es nicht bis zum Fieber des
Fanatismus sich steigert. Mit Lamennais, zum Theil auch mit Noussecin ist es
ganz derselbe Fall, und die heilige Kirche, von welcher de Maistre jenes Mirakel
erwartet, das alle Leiden der Zeit plötzlich endigen soll, ist eben so ein bloßes
Gedankending, wie die volontv xänörals des Genfer Philosophen. Er weist
trübselig auf die Zukunft, und hofft Alles von dem Wunder eines großen herein¬
brechenden Geschicks, weil er zu sehr in seiner Vorstellung vertieft nud zu träge
ist, um an die Wirklichkeit anzuknüpfen. Vollständig verloren in seine Gedanken,
kommt es ihm gar nicht darauf an, die handgreiflichsten Absurditäten zu behaupten,
wenn er irgend etwas beweisen will. So versichert er einmal mit der größten
Ueberzeugung, alle Nationen hätten die Erziehung der Kinder den Priestern über¬
lassen, und an einem andern Ort, die moderne Naturwissenschaft habe lediglich
darum so große Fortschritte gemacht, weil sie aus der Theologie hervorgegangen
sei. Solche Behauptungen werden dann durch das Univers und ähnliche clerikale
Blätter als Evangelium verkündet.

Joseph de Maistre ward 17S3 zu Chambery geboren. Das Eindringen der
französischen Revolutionsarmee vertrieb ihn -1792 aus seinem Vaterlande, er folgte
seinem Hof nach Sardinien, und fungirte später als Gesandter desselben in Se.
Petersburg (-1804---18-17)Er starb als Minister zu Turin 18S-I.



") Sein Bruder, Xaver de Maistre, .leb. 1764. seit-17"!" russischer Generalmajor, hat sich
durch die witzige Dichtung'. Voz-"g^ !mi"u>- <><z c-wimdru, -I7"4, und dnrch einen ans
Mystische grenzenden Schrcckcusrmnau: 1." lejii-vux cle In vitü ä'^osla, -I814, ausgezeichnet.

Jene Sammlung hat in einer doppelten Beziehung Interesse für uns. Ein¬
mal sehen wir daraus, daß sich bei de Maistre der leitende Gedanke mit der
Monomanie einer fixen Idee festgesetzt hatte, und ihn auch in den gewöhnlichsten
Lebensbeziehungen nicht verließ, daß er aber neben seiner Doctrin, die ihn häufig
zu den ausschweifendsten und bösartigsten Behauptungen verleitete, im Uebrigen
eine große Bonhommie besaß. Er zeigt sich überall nicht als ein Mann der That,
oder anch mir des festen Willens, sondern als ein Grübler, der sein System für
sich wirken laßt, und seinen Gedanken, die ihn verfolgen, ihn beunruhigen und
ermüden, dort einen freien Spielplatz giebt, ohne ihren wettern Verlauf im prak¬
tische» Leben zu verfolgen. >>« vouclrais voriloir, sagt er einmal, mais,i«z t'tuis
par psnser. Diese unpraktische Natur ist sehr geeignet, ein einseitiges,
aber energisches System hervorzubringen, mit welchem dann eine ins praktische
Leben greifende Schule weiter operirt; sie ist eben so geneigt, in Fällen, wo sie
nothwendig ans der Apathie ihres Systems heraustreten muß, nach allen Seiten
hin Concessionen zu macheu, und sich in ihrem Handeln dnrch die Zufälligkeit der
äußeren Umstände bestimmen zu lassen. Die moralische Gewalt, den Menschen zu
einer Totalität, zu einem Charakter zu erheben, der in keinem gegebenen Fall
zweifelt, hat ein einseitiges System nicht, so lauge es nicht bis zum Fieber des
Fanatismus sich steigert. Mit Lamennais, zum Theil auch mit Noussecin ist es
ganz derselbe Fall, und die heilige Kirche, von welcher de Maistre jenes Mirakel
erwartet, das alle Leiden der Zeit plötzlich endigen soll, ist eben so ein bloßes
Gedankending, wie die volontv xänörals des Genfer Philosophen. Er weist
trübselig auf die Zukunft, und hofft Alles von dem Wunder eines großen herein¬
brechenden Geschicks, weil er zu sehr in seiner Vorstellung vertieft nud zu träge
ist, um an die Wirklichkeit anzuknüpfen. Vollständig verloren in seine Gedanken,
kommt es ihm gar nicht darauf an, die handgreiflichsten Absurditäten zu behaupten,
wenn er irgend etwas beweisen will. So versichert er einmal mit der größten
Ueberzeugung, alle Nationen hätten die Erziehung der Kinder den Priestern über¬
lassen, und an einem andern Ort, die moderne Naturwissenschaft habe lediglich
darum so große Fortschritte gemacht, weil sie aus der Theologie hervorgegangen
sei. Solche Behauptungen werden dann durch das Univers und ähnliche clerikale
Blätter als Evangelium verkündet.

Joseph de Maistre ward 17S3 zu Chambery geboren. Das Eindringen der
französischen Revolutionsarmee vertrieb ihn -1792 aus seinem Vaterlande, er folgte
seinem Hof nach Sardinien, und fungirte später als Gesandter desselben in Se.
Petersburg (-1804—-18-17)Er starb als Minister zu Turin 18S-I.



") Sein Bruder, Xaver de Maistre, .leb. 1764. seit-17»!» russischer Generalmajor, hat sich
durch die witzige Dichtung'. Voz-»g^ !mi»u>- <><z c-wimdru, -I7»4, und dnrch einen ans
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[0352] Jene Sammlung hat in einer doppelten Beziehung Interesse für uns. Ein¬ mal sehen wir daraus, daß sich bei de Maistre der leitende Gedanke mit der Monomanie einer fixen Idee festgesetzt hatte, und ihn auch in den gewöhnlichsten Lebensbeziehungen nicht verließ, daß er aber neben seiner Doctrin, die ihn häufig zu den ausschweifendsten und bösartigsten Behauptungen verleitete, im Uebrigen eine große Bonhommie besaß. Er zeigt sich überall nicht als ein Mann der That, oder anch mir des festen Willens, sondern als ein Grübler, der sein System für sich wirken laßt, und seinen Gedanken, die ihn verfolgen, ihn beunruhigen und ermüden, dort einen freien Spielplatz giebt, ohne ihren wettern Verlauf im prak¬ tische» Leben zu verfolgen. >>« vouclrais voriloir, sagt er einmal, mais,i«z t'tuis par psnser. Diese unpraktische Natur ist sehr geeignet, ein einseitiges, aber energisches System hervorzubringen, mit welchem dann eine ins praktische Leben greifende Schule weiter operirt; sie ist eben so geneigt, in Fällen, wo sie nothwendig ans der Apathie ihres Systems heraustreten muß, nach allen Seiten hin Concessionen zu macheu, und sich in ihrem Handeln dnrch die Zufälligkeit der äußeren Umstände bestimmen zu lassen. Die moralische Gewalt, den Menschen zu einer Totalität, zu einem Charakter zu erheben, der in keinem gegebenen Fall zweifelt, hat ein einseitiges System nicht, so lauge es nicht bis zum Fieber des Fanatismus sich steigert. Mit Lamennais, zum Theil auch mit Noussecin ist es ganz derselbe Fall, und die heilige Kirche, von welcher de Maistre jenes Mirakel erwartet, das alle Leiden der Zeit plötzlich endigen soll, ist eben so ein bloßes Gedankending, wie die volontv xänörals des Genfer Philosophen. Er weist trübselig auf die Zukunft, und hofft Alles von dem Wunder eines großen herein¬ brechenden Geschicks, weil er zu sehr in seiner Vorstellung vertieft nud zu träge ist, um an die Wirklichkeit anzuknüpfen. Vollständig verloren in seine Gedanken, kommt es ihm gar nicht darauf an, die handgreiflichsten Absurditäten zu behaupten, wenn er irgend etwas beweisen will. So versichert er einmal mit der größten Ueberzeugung, alle Nationen hätten die Erziehung der Kinder den Priestern über¬ lassen, und an einem andern Ort, die moderne Naturwissenschaft habe lediglich darum so große Fortschritte gemacht, weil sie aus der Theologie hervorgegangen sei. Solche Behauptungen werden dann durch das Univers und ähnliche clerikale Blätter als Evangelium verkündet. Joseph de Maistre ward 17S3 zu Chambery geboren. Das Eindringen der französischen Revolutionsarmee vertrieb ihn -1792 aus seinem Vaterlande, er folgte seinem Hof nach Sardinien, und fungirte später als Gesandter desselben in Se. Petersburg (-1804—-18-17)Er starb als Minister zu Turin 18S-I. ") Sein Bruder, Xaver de Maistre, .leb. 1764. seit-17»!» russischer Generalmajor, hat sich durch die witzige Dichtung'. Voz-»g^ !mi»u>- <><z c-wimdru, -I7»4, und dnrch einen ans Mystische grenzenden Schrcckcusrmnau: 1.« lejii-vux cle In vitü ä'^osla, -I814, ausgezeichnet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/352>, abgerufen am 23.07.2024.