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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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andere" Gesichtspunkten hergeleitet, die ans das musikalische Urtheil gar keinen
Einfluß haben können, die aber für den Dilettanten das einzige Mittel sind, sich
auszudrücken.

Der Dilettant pflegt es als eine gleichgiltige Sache zu betrachten, daß er
den Ton, oder das Intervall, oder den Accord/ oder die Form der Stimmführung,
die gerade im Augenblick vorliegt, nicht mit Namen bezeichnen kann, aber das ist
nicht blos ein Mangel im Ausdruck, sondern zugleich ein Mangel im Verständniß.
Aehnlich sagt mau zuweilen, daß man die herrlichsten Gedanken von der Welt
habe, sie aber nur uicht auszudrücken wisse, während doch der Gedanke erst durch
die Sprache zum Gedanken wird. Die Worte und Bezeichnungen sind das All¬
gemeine, dnrch welche die einzelne Erscheinung ihren geistigen Inhalt erhält.
Erst wenn man die musikalische Sprache spricht, wozu freilich nöthig ist, daß mau
sie gelernt hat, ist man auch im Stande, sie zu verstehen, d. h. aus der zufälligen
einzelnen Empfindung sich zu einem bewußten und motivirten Urtheil zu erhebe".
Es kommt uoch hinzu, daß zum Urtheil über den historischen Werth eines musi¬
kalischen Kunstwerks eine vollständige Einsicht in die Mittel, über welche die Kunst
Zu disponiren hat, und in die Formen, welche die bisherige Entwickelung der
Musik dem Künstler snppeditirt, nothwendig ist. Auch eine solche Kenntniß ist
nicht möglich, wenn mau uicht im Stande ist, für die einzelne sinnliche An¬
schauung den entsprechenden allgemeinen Ausdruck zu finden, also von einem
To", einem Accord ze., den man Hort, zu sagen, er heißt so und so, und von
einem Ton, Accord ze., den man liest, zu wissen, er klingt so und so.

Am unangemessensten erscheint jenes Verwischen des bestimmten musikalischen
Urtheils in ein allgemeines ästhetisches Gerede in einer Zeitschrift, die ans-
Wießlich für Musiker bestimmt ist, und am unangemessensten, wenn sich Musiker
d"zu hergebe". An der Neuen Zeitschrift für Musik arbeiten wirkliche Musiker
bu'l, aber sie reden nicht anders, als Herr Brendel. Einer derselben hat auf
"n>ren Artikel über Wagner eine Entgegnung geschrieben, die nach der beliebten
Gewohnheit dieser Schule vorzugsweise mit den Kategorien der Sittlichkeit und
^usittlichkeit operirt. Unser Aussatz wird der Unsittlichkeit beschuldigt, theils weil
^ir den "ersten Meister der Jetztzeit" mit nüchternen Worten besprechen, anstatt
anzubeten, theils weil wir ihn, den so vielfach Verfolgten, vor den Regie-
"U'ge" als einen Demokraten, vor den Juden als einen Judenfeind denunciren.

Was deu ersten Vorwurf betrifft, so ist es weder bei den Grenzboten, noch
dem musikalischen Referenten derselben Sitte, sich in jenen überschwänglichen
Ausdrücken zu ergehen, an die unsre Künstler durch die kleinen Klatschblätter
gewöhnt sind; dafür glauben wir, daß ein, wenn anch in einfachen Worten aus¬
gesprochenes, und selbst ein bedingtes Lob bei uns ernster genommen wird, als
^e ersterbende Devotion, mit der man unsren große" Man"ern anderwärts ent¬
gegenkommt. Wenn man serner dem musikalischen Referenten Principlosigkeit vor-


andere» Gesichtspunkten hergeleitet, die ans das musikalische Urtheil gar keinen
Einfluß haben können, die aber für den Dilettanten das einzige Mittel sind, sich
auszudrücken.

Der Dilettant pflegt es als eine gleichgiltige Sache zu betrachten, daß er
den Ton, oder das Intervall, oder den Accord/ oder die Form der Stimmführung,
die gerade im Augenblick vorliegt, nicht mit Namen bezeichnen kann, aber das ist
nicht blos ein Mangel im Ausdruck, sondern zugleich ein Mangel im Verständniß.
Aehnlich sagt mau zuweilen, daß man die herrlichsten Gedanken von der Welt
habe, sie aber nur uicht auszudrücken wisse, während doch der Gedanke erst durch
die Sprache zum Gedanken wird. Die Worte und Bezeichnungen sind das All¬
gemeine, dnrch welche die einzelne Erscheinung ihren geistigen Inhalt erhält.
Erst wenn man die musikalische Sprache spricht, wozu freilich nöthig ist, daß mau
sie gelernt hat, ist man auch im Stande, sie zu verstehen, d. h. aus der zufälligen
einzelnen Empfindung sich zu einem bewußten und motivirten Urtheil zu erhebe».
Es kommt uoch hinzu, daß zum Urtheil über den historischen Werth eines musi¬
kalischen Kunstwerks eine vollständige Einsicht in die Mittel, über welche die Kunst
Zu disponiren hat, und in die Formen, welche die bisherige Entwickelung der
Musik dem Künstler snppeditirt, nothwendig ist. Auch eine solche Kenntniß ist
nicht möglich, wenn mau uicht im Stande ist, für die einzelne sinnliche An¬
schauung den entsprechenden allgemeinen Ausdruck zu finden, also von einem
To», einem Accord ze., den man Hort, zu sagen, er heißt so und so, und von
einem Ton, Accord ze., den man liest, zu wissen, er klingt so und so.

Am unangemessensten erscheint jenes Verwischen des bestimmten musikalischen
Urtheils in ein allgemeines ästhetisches Gerede in einer Zeitschrift, die ans-
Wießlich für Musiker bestimmt ist, und am unangemessensten, wenn sich Musiker
d"zu hergebe». An der Neuen Zeitschrift für Musik arbeiten wirkliche Musiker
bu'l, aber sie reden nicht anders, als Herr Brendel. Einer derselben hat auf
"n>ren Artikel über Wagner eine Entgegnung geschrieben, die nach der beliebten
Gewohnheit dieser Schule vorzugsweise mit den Kategorien der Sittlichkeit und
^usittlichkeit operirt. Unser Aussatz wird der Unsittlichkeit beschuldigt, theils weil
^ir den „ersten Meister der Jetztzeit" mit nüchternen Worten besprechen, anstatt
anzubeten, theils weil wir ihn, den so vielfach Verfolgten, vor den Regie-
"U'ge» als einen Demokraten, vor den Juden als einen Judenfeind denunciren.

Was deu ersten Vorwurf betrifft, so ist es weder bei den Grenzboten, noch
dem musikalischen Referenten derselben Sitte, sich in jenen überschwänglichen
Ausdrücken zu ergehen, an die unsre Künstler durch die kleinen Klatschblätter
gewöhnt sind; dafür glauben wir, daß ein, wenn anch in einfachen Worten aus¬
gesprochenes, und selbst ein bedingtes Lob bei uns ernster genommen wird, als
^e ersterbende Devotion, mit der man unsren große» Man»ern anderwärts ent¬
gegenkommt. Wenn man serner dem musikalischen Referenten Principlosigkeit vor-


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[0305] andere» Gesichtspunkten hergeleitet, die ans das musikalische Urtheil gar keinen Einfluß haben können, die aber für den Dilettanten das einzige Mittel sind, sich auszudrücken. Der Dilettant pflegt es als eine gleichgiltige Sache zu betrachten, daß er den Ton, oder das Intervall, oder den Accord/ oder die Form der Stimmführung, die gerade im Augenblick vorliegt, nicht mit Namen bezeichnen kann, aber das ist nicht blos ein Mangel im Ausdruck, sondern zugleich ein Mangel im Verständniß. Aehnlich sagt mau zuweilen, daß man die herrlichsten Gedanken von der Welt habe, sie aber nur uicht auszudrücken wisse, während doch der Gedanke erst durch die Sprache zum Gedanken wird. Die Worte und Bezeichnungen sind das All¬ gemeine, dnrch welche die einzelne Erscheinung ihren geistigen Inhalt erhält. Erst wenn man die musikalische Sprache spricht, wozu freilich nöthig ist, daß mau sie gelernt hat, ist man auch im Stande, sie zu verstehen, d. h. aus der zufälligen einzelnen Empfindung sich zu einem bewußten und motivirten Urtheil zu erhebe». Es kommt uoch hinzu, daß zum Urtheil über den historischen Werth eines musi¬ kalischen Kunstwerks eine vollständige Einsicht in die Mittel, über welche die Kunst Zu disponiren hat, und in die Formen, welche die bisherige Entwickelung der Musik dem Künstler snppeditirt, nothwendig ist. Auch eine solche Kenntniß ist nicht möglich, wenn mau uicht im Stande ist, für die einzelne sinnliche An¬ schauung den entsprechenden allgemeinen Ausdruck zu finden, also von einem To», einem Accord ze., den man Hort, zu sagen, er heißt so und so, und von einem Ton, Accord ze., den man liest, zu wissen, er klingt so und so. Am unangemessensten erscheint jenes Verwischen des bestimmten musikalischen Urtheils in ein allgemeines ästhetisches Gerede in einer Zeitschrift, die ans- Wießlich für Musiker bestimmt ist, und am unangemessensten, wenn sich Musiker d"zu hergebe». An der Neuen Zeitschrift für Musik arbeiten wirkliche Musiker bu'l, aber sie reden nicht anders, als Herr Brendel. Einer derselben hat auf "n>ren Artikel über Wagner eine Entgegnung geschrieben, die nach der beliebten Gewohnheit dieser Schule vorzugsweise mit den Kategorien der Sittlichkeit und ^usittlichkeit operirt. Unser Aussatz wird der Unsittlichkeit beschuldigt, theils weil ^ir den „ersten Meister der Jetztzeit" mit nüchternen Worten besprechen, anstatt anzubeten, theils weil wir ihn, den so vielfach Verfolgten, vor den Regie- "U'ge» als einen Demokraten, vor den Juden als einen Judenfeind denunciren. Was deu ersten Vorwurf betrifft, so ist es weder bei den Grenzboten, noch dem musikalischen Referenten derselben Sitte, sich in jenen überschwänglichen Ausdrücken zu ergehen, an die unsre Künstler durch die kleinen Klatschblätter gewöhnt sind; dafür glauben wir, daß ein, wenn anch in einfachen Worten aus¬ gesprochenes, und selbst ein bedingtes Lob bei uns ernster genommen wird, als ^e ersterbende Devotion, mit der man unsren große» Man»ern anderwärts ent¬ gegenkommt. Wenn man serner dem musikalischen Referenten Principlosigkeit vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/305>, abgerufen am 23.07.2024.