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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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weit dürftigerer Weise ausfällt, als es nöthig wäre. Wollen wir in der Ent¬
wickelung der Musik zu etwas Gesunden gelangen, so müssen die Musiker eben
so sehr als das Piiblicum sich von Vorurtheilen losmachen, die gegenwärtig wie
ein Alp ans die Kunst drücken; in jeder Einzelleben nach Neuheit und Eigen¬
thümlichkeit zu streben, das führt in der Regel zur Verzerrtheit, im glücklichsten
Fall, wie z.B. bei Mendelssohn, der sich auch gleichsam eine persönliche Sprache
schuf, zur Beschräukheit; es gilt aber, zu Leistungen hinznstreben, die vor allen
Dingen wahr und natürlich sind und uns sodann einen möglichst weiten Gesichts¬
kreis eröffnen; Neuheit und Eigenthümlichkeit müssen wir vorzugsweise in der
kunstvollen Gestaltung des Ganze" suchen.

Zwar steht heute das Interessante, Pikante und Geistreiche höher im Course,
als das Schöne, dessen Erkennen und Genießen in der Regel eine weit innigere
Vertiefung voraussetzt. Die Flachheit des Dilettantismus, die einen immer grö¬
ßern Einfluß auf die Tonkunst gewinnt, ist der Feind, von dem sie das Meiste
zu fürchten hat; sie steht in Gefahr, an ihrer allgemeinen Verbreitung unterzu¬
gehen. Darauf nun, den Sinn für die Reinheit der Tonkunst zu erwecken und
zu befestigen, strebt Thibaut's Schrift vorzugsweise hin. Wenn gleich T. eine
besondere Vorliebe für deu Kirchenstyl und nächst dem für den Oratorienstyl hat,
den er mit Recht als eine besondere, der Oper sich nähernde Gattung von jenem
ersteren unterscheidet, so will er doch uicht die anderen leichteren Gattungen gänz¬
lich ausgeschlossen wissen. Wenn einerseits Palestrina ihm als das Ideal der
strengen kirchlichen Erhabenheit erscheint, so wird er andererseits durch die National-
melvdien aller Völker, um deren Erwerbung er sich vielfach bemühte, lebhaft an¬
gezogen, weil diese, natürlich entstanden, von allen den Verzerrungen frei sind,
auf die effectsüchtige' Culturmenschen so leicht gerathen. Ob freilich Natioual-
melodien das Edle in der Kunst ausdrücken, kann bezweifelt werden; sie werden
in der Regel nach einer andern Richtung hin eben so fern dem Edeln stehen,
als die Productionen der Uebercultur. Die Spanischen Volkslieder z. B., die
jedenfalls zu deu interessantesten gehören und auch von T. mit vielem Nachdruck
hervorgehoben werden, bewegen sich in den seltsamsten Wendungen und Rouladen
von der Welt; sie sind weit entfernt von der maßvollen Haltung, die T. als daS
Wesen der Klassicität hinstellt. So schwärmt denn auch T. für die alten Choräle,
die im Vergleich mit den heute üblichen Choralbearbeituugeu zwar viel Innigkeit
Und Lebendigkeit, aber zugleich einen leidenschaftlichen und fanatischen Charakter
haben. Dies sind Neste der Romantik, die mit den .sonstigen Liebhabereien Thi¬
baut's nicht gut vereinbar scheinen. Denn an der Spitze von Allen als sein eigent-
licher Liebling steht Händel, den er freilich mit Unrecht den Shakspeare der
Musik nennt. Eine schöne Mischung von Kraft und Milde, von Klarheit uno
Tiefe, von Einfachheit und feiner Ausprägung ist der Grundcharakter aller Ha"'
del'schen Chöre und Arien; aus diesem Gleichgewicht entgegengesetzter Eigen-


weit dürftigerer Weise ausfällt, als es nöthig wäre. Wollen wir in der Ent¬
wickelung der Musik zu etwas Gesunden gelangen, so müssen die Musiker eben
so sehr als das Piiblicum sich von Vorurtheilen losmachen, die gegenwärtig wie
ein Alp ans die Kunst drücken; in jeder Einzelleben nach Neuheit und Eigen¬
thümlichkeit zu streben, das führt in der Regel zur Verzerrtheit, im glücklichsten
Fall, wie z.B. bei Mendelssohn, der sich auch gleichsam eine persönliche Sprache
schuf, zur Beschräukheit; es gilt aber, zu Leistungen hinznstreben, die vor allen
Dingen wahr und natürlich sind und uns sodann einen möglichst weiten Gesichts¬
kreis eröffnen; Neuheit und Eigenthümlichkeit müssen wir vorzugsweise in der
kunstvollen Gestaltung des Ganze» suchen.

Zwar steht heute das Interessante, Pikante und Geistreiche höher im Course,
als das Schöne, dessen Erkennen und Genießen in der Regel eine weit innigere
Vertiefung voraussetzt. Die Flachheit des Dilettantismus, die einen immer grö¬
ßern Einfluß auf die Tonkunst gewinnt, ist der Feind, von dem sie das Meiste
zu fürchten hat; sie steht in Gefahr, an ihrer allgemeinen Verbreitung unterzu¬
gehen. Darauf nun, den Sinn für die Reinheit der Tonkunst zu erwecken und
zu befestigen, strebt Thibaut's Schrift vorzugsweise hin. Wenn gleich T. eine
besondere Vorliebe für deu Kirchenstyl und nächst dem für den Oratorienstyl hat,
den er mit Recht als eine besondere, der Oper sich nähernde Gattung von jenem
ersteren unterscheidet, so will er doch uicht die anderen leichteren Gattungen gänz¬
lich ausgeschlossen wissen. Wenn einerseits Palestrina ihm als das Ideal der
strengen kirchlichen Erhabenheit erscheint, so wird er andererseits durch die National-
melvdien aller Völker, um deren Erwerbung er sich vielfach bemühte, lebhaft an¬
gezogen, weil diese, natürlich entstanden, von allen den Verzerrungen frei sind,
auf die effectsüchtige' Culturmenschen so leicht gerathen. Ob freilich Natioual-
melodien das Edle in der Kunst ausdrücken, kann bezweifelt werden; sie werden
in der Regel nach einer andern Richtung hin eben so fern dem Edeln stehen,
als die Productionen der Uebercultur. Die Spanischen Volkslieder z. B., die
jedenfalls zu deu interessantesten gehören und auch von T. mit vielem Nachdruck
hervorgehoben werden, bewegen sich in den seltsamsten Wendungen und Rouladen
von der Welt; sie sind weit entfernt von der maßvollen Haltung, die T. als daS
Wesen der Klassicität hinstellt. So schwärmt denn auch T. für die alten Choräle,
die im Vergleich mit den heute üblichen Choralbearbeituugeu zwar viel Innigkeit
Und Lebendigkeit, aber zugleich einen leidenschaftlichen und fanatischen Charakter
haben. Dies sind Neste der Romantik, die mit den .sonstigen Liebhabereien Thi¬
baut's nicht gut vereinbar scheinen. Denn an der Spitze von Allen als sein eigent-
licher Liebling steht Händel, den er freilich mit Unrecht den Shakspeare der
Musik nennt. Eine schöne Mischung von Kraft und Milde, von Klarheit uno
Tiefe, von Einfachheit und feiner Ausprägung ist der Grundcharakter aller Ha"'
del'schen Chöre und Arien; aus diesem Gleichgewicht entgegengesetzter Eigen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/30>, abgerufen am 23.07.2024.