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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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schaumig des wirklichen Lebens genommen hat. Die Zeitgenossen wurden da¬
durch verleitet, überall nach Portraits zu suchen, während doch der Dichter auch
das, was er aus der Wirklichkeit benutzt, immer idealisiren muß. -- Das Pro¬
blem dieses Romans war wiederum die Lage einer edlen und geistvollen Fran, die
einer unangemessenen Ehe verfallen war. Es war zugleich ein stillschweigender
Protest gegen die Modistcationen in dem Ehcscheiduugsgesetz, welche neben anderen
Veränderungen der sittlichen Einrichtungen durch das eben abgeschlossene Con-
cordat hervorgerufen waren. Die Lösung des Problems war durch die Idee
der Humanität versucht, die aber keineswegs Stärke genug besaß, die Idee der
außerweltlichen Pflicht vollständig zu überwinden, obgleich die änßere Darstellung
derselben in dem Gebot der Religion und der Convenienz mit großer Rücksichts¬
losigkeit bei Seite gesetzt war. -- Aus dem letztern Grunde rief der Roman höchst
iMimose Kritiken hervor. Der Abb" Feletz sprach sich im .korn-nu,! civs OvKats
gegen die Uuchristlichkeit des Werkes ans; Frau v. Genlis machte sehr boshafte
Bemerkungen über den Zusammenhang der Doctrin mit der Praxis; Michaud,
der Classiker, zog gegen die Neuerungen der Sprache zu Felde. -- Es ist eigen¬
thümlich, daß Valerie, ein Roman der Frau vou Krüdener, der 1804 erschien
Und denselben Gegenstand behandelte, viel weniger Anlaß zur Kritik gab, obgleich
°r viel sinnlicher gehalten war und eine glühende Leidenschaftlichkeit entfaltete;
aber das Ende und die Nutzanwendung machten Alles wieder gut. Die Valerie
'se übrigens im Ganzen gut geschrieben, und vielen modernen Producten ähnlicher
^re vorzuziehen.

In dieser Zeit tritt ein Wendepunkt in dein Schicksal der Frau v. StaÄ
°ü>. Napoleon war theils durch ihre Epigramme, theils durch einige angebliche
^ndiscretioncn in dem so eben erschienenen Buche ihres Vaters: Uoruieios vues
^ poUtiquc; et 6c; Iwuneu", beleidigt, und sprach im Jahr 1803 das Decret der
Verbannung über sie aus. Der eigentliche Grund aber war jener kleinliche Neid
l^gen jede selbstständige und unabhängige Größe, die neben ihm aufzutreten wagte.
^c"i v. StaÄ machte ihre erste Reise durch Deutschland, wo sie Goethe, Schiller,
Schlegel und andere Dichter kennen lernte und den ersten Grad zu ihrem Studium
über deutsche Literatur legte ; dann "ach Italien, wo sie die Natur, die ihr bisher nur
ein allgemeines Ideal vorgeschwebt hatte, mit den Augen eines Landschafts¬
malers anzuschauen lernte, und setzte sich dann im Jahre 1806 in ihrem Schlosse
^PPet fest, wo sich eine Kolonie von Dichtern und Gelehrten um sie sammelte,
'"le sie in der ganzen Literaturgeschichte noch nicht vorgekommen war. Schlegel,
Benjamin Constant, Bonstetten, Sismondi, Barautc waren die stehenden Gäste;
Andere, z. B. Oehlcuschläger, Zacharias Werner hielten sich vorübergehend dort
""f- Auch Lord Byron besuchte sie später daselbst (-1816). In dieser Gesell¬
schaft wurde mit einer Leidenschaft und Hast Literatur getrieben, die für
^chlenschläger mit Recht eiwas Erschreckendes hatte. Alle Abende kam die Ge-


schaumig des wirklichen Lebens genommen hat. Die Zeitgenossen wurden da¬
durch verleitet, überall nach Portraits zu suchen, während doch der Dichter auch
das, was er aus der Wirklichkeit benutzt, immer idealisiren muß. — Das Pro¬
blem dieses Romans war wiederum die Lage einer edlen und geistvollen Fran, die
einer unangemessenen Ehe verfallen war. Es war zugleich ein stillschweigender
Protest gegen die Modistcationen in dem Ehcscheiduugsgesetz, welche neben anderen
Veränderungen der sittlichen Einrichtungen durch das eben abgeschlossene Con-
cordat hervorgerufen waren. Die Lösung des Problems war durch die Idee
der Humanität versucht, die aber keineswegs Stärke genug besaß, die Idee der
außerweltlichen Pflicht vollständig zu überwinden, obgleich die änßere Darstellung
derselben in dem Gebot der Religion und der Convenienz mit großer Rücksichts¬
losigkeit bei Seite gesetzt war. — Aus dem letztern Grunde rief der Roman höchst
iMimose Kritiken hervor. Der Abb» Feletz sprach sich im .korn-nu,! civs OvKats
gegen die Uuchristlichkeit des Werkes ans; Frau v. Genlis machte sehr boshafte
Bemerkungen über den Zusammenhang der Doctrin mit der Praxis; Michaud,
der Classiker, zog gegen die Neuerungen der Sprache zu Felde. — Es ist eigen¬
thümlich, daß Valerie, ein Roman der Frau vou Krüdener, der 1804 erschien
Und denselben Gegenstand behandelte, viel weniger Anlaß zur Kritik gab, obgleich
°r viel sinnlicher gehalten war und eine glühende Leidenschaftlichkeit entfaltete;
aber das Ende und die Nutzanwendung machten Alles wieder gut. Die Valerie
'se übrigens im Ganzen gut geschrieben, und vielen modernen Producten ähnlicher
^re vorzuziehen.

In dieser Zeit tritt ein Wendepunkt in dein Schicksal der Frau v. StaÄ
°ü>. Napoleon war theils durch ihre Epigramme, theils durch einige angebliche
^ndiscretioncn in dem so eben erschienenen Buche ihres Vaters: Uoruieios vues
^ poUtiquc; et 6c; Iwuneu», beleidigt, und sprach im Jahr 1803 das Decret der
Verbannung über sie aus. Der eigentliche Grund aber war jener kleinliche Neid
l^gen jede selbstständige und unabhängige Größe, die neben ihm aufzutreten wagte.
^c»i v. StaÄ machte ihre erste Reise durch Deutschland, wo sie Goethe, Schiller,
Schlegel und andere Dichter kennen lernte und den ersten Grad zu ihrem Studium
über deutsche Literatur legte ; dann »ach Italien, wo sie die Natur, die ihr bisher nur
ein allgemeines Ideal vorgeschwebt hatte, mit den Augen eines Landschafts¬
malers anzuschauen lernte, und setzte sich dann im Jahre 1806 in ihrem Schlosse
^PPet fest, wo sich eine Kolonie von Dichtern und Gelehrten um sie sammelte,
'"le sie in der ganzen Literaturgeschichte noch nicht vorgekommen war. Schlegel,
Benjamin Constant, Bonstetten, Sismondi, Barautc waren die stehenden Gäste;
Andere, z. B. Oehlcuschläger, Zacharias Werner hielten sich vorübergehend dort
""f- Auch Lord Byron besuchte sie später daselbst (-1816). In dieser Gesell¬
schaft wurde mit einer Leidenschaft und Hast Literatur getrieben, die für
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[0299] schaumig des wirklichen Lebens genommen hat. Die Zeitgenossen wurden da¬ durch verleitet, überall nach Portraits zu suchen, während doch der Dichter auch das, was er aus der Wirklichkeit benutzt, immer idealisiren muß. — Das Pro¬ blem dieses Romans war wiederum die Lage einer edlen und geistvollen Fran, die einer unangemessenen Ehe verfallen war. Es war zugleich ein stillschweigender Protest gegen die Modistcationen in dem Ehcscheiduugsgesetz, welche neben anderen Veränderungen der sittlichen Einrichtungen durch das eben abgeschlossene Con- cordat hervorgerufen waren. Die Lösung des Problems war durch die Idee der Humanität versucht, die aber keineswegs Stärke genug besaß, die Idee der außerweltlichen Pflicht vollständig zu überwinden, obgleich die änßere Darstellung derselben in dem Gebot der Religion und der Convenienz mit großer Rücksichts¬ losigkeit bei Seite gesetzt war. — Aus dem letztern Grunde rief der Roman höchst iMimose Kritiken hervor. Der Abb» Feletz sprach sich im .korn-nu,! civs OvKats gegen die Uuchristlichkeit des Werkes ans; Frau v. Genlis machte sehr boshafte Bemerkungen über den Zusammenhang der Doctrin mit der Praxis; Michaud, der Classiker, zog gegen die Neuerungen der Sprache zu Felde. — Es ist eigen¬ thümlich, daß Valerie, ein Roman der Frau vou Krüdener, der 1804 erschien Und denselben Gegenstand behandelte, viel weniger Anlaß zur Kritik gab, obgleich °r viel sinnlicher gehalten war und eine glühende Leidenschaftlichkeit entfaltete; aber das Ende und die Nutzanwendung machten Alles wieder gut. Die Valerie 'se übrigens im Ganzen gut geschrieben, und vielen modernen Producten ähnlicher ^re vorzuziehen. In dieser Zeit tritt ein Wendepunkt in dein Schicksal der Frau v. StaÄ °ü>. Napoleon war theils durch ihre Epigramme, theils durch einige angebliche ^ndiscretioncn in dem so eben erschienenen Buche ihres Vaters: Uoruieios vues ^ poUtiquc; et 6c; Iwuneu», beleidigt, und sprach im Jahr 1803 das Decret der Verbannung über sie aus. Der eigentliche Grund aber war jener kleinliche Neid l^gen jede selbstständige und unabhängige Größe, die neben ihm aufzutreten wagte. ^c»i v. StaÄ machte ihre erste Reise durch Deutschland, wo sie Goethe, Schiller, Schlegel und andere Dichter kennen lernte und den ersten Grad zu ihrem Studium über deutsche Literatur legte ; dann »ach Italien, wo sie die Natur, die ihr bisher nur ein allgemeines Ideal vorgeschwebt hatte, mit den Augen eines Landschafts¬ malers anzuschauen lernte, und setzte sich dann im Jahre 1806 in ihrem Schlosse ^PPet fest, wo sich eine Kolonie von Dichtern und Gelehrten um sie sammelte, '"le sie in der ganzen Literaturgeschichte noch nicht vorgekommen war. Schlegel, Benjamin Constant, Bonstetten, Sismondi, Barautc waren die stehenden Gäste; Andere, z. B. Oehlcuschläger, Zacharias Werner hielten sich vorübergehend dort ""f- Auch Lord Byron besuchte sie später daselbst (-1816). In dieser Gesell¬ schaft wurde mit einer Leidenschaft und Hast Literatur getrieben, die für ^chlenschläger mit Recht eiwas Erschreckendes hatte. Alle Abende kam die Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/299>, abgerufen am 23.07.2024.