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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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Die Anschauung, welche er von den Personen hat, ist fast immer unvollständig.
Es ist nicht das tiefe Verstehen ihres ganzen Wesens und eine souveraine Be¬
herrschung ihrer Natur, welche ihm möglich macht, dieselben in den verschiedensten
Situationen in ihrer charakteristischen Bestimmtheit deutlich zu schauen und dar¬
zustellen, sondern es sind fast immer einzelne hervorstechende Züge und Sei¬
ten ihres Wesens, in welchen er mit Liebe verweilt, und die er in den verschie¬
denen Situationen variirt; eine Eigenschaft, durch welche freilich auch Boz zu¬
weilen eingeengt ist, die aber bei der sehr glänzenden Darstellung desselben in
der Regel verdeckt wird. Ja noch mehr, das Empfinden der Charaktere ist bei
Hackländer, -- ob ans Flüchtigkeit, oder aus Maugel an Dichterkraft, wage ich
"icht zu entscheiden -- so unvollständig, daß er dieselbe durch ganz willkürliche
und nicht mehr charakteristische Einfälle zu specialisiren sucht. Z. B. daß die
"lec Jungfer Kiliane die Möbeln in ihrer kleinen Stube seil vielen Jahren nicht
ZU Ordnung gestellt hat; daß Doctor Stechmeyer, eine für deu Roman ganz un-
"ütze Figur, deren Charakteristik ihm aus Gründe", die nicht Hieher gehören,
vollständig mißlungen ist, in einem Schrank wohnt, u. s. w. Der mit Liebe ge¬
zeichneten Personen sind auch im Ganzen nnr wenige: der Schneider Dübel und
der Kutscher Joseph. Die vornehmen Herren und die zahlreichen unglücklichen
Mädchen sind nicht so dargestellt, daß man ein menschliches Interesse an ihnen
nehmen kann, es ist überall die Flüchtigkeit sichtbar, und daß der Verfasser älter¬
en Einfälle gehabt hat, nach welchen er sie in beliebige Situationen hineinwirft.

Am ungeschicktesten sind aber einzelne phantastische Personen, welche in der
nüchternen Gegenwart und der behaglichen verständigen Erzähluugsweise deS Verf.
^echt geschmacklos herumwandeln: der Jäger Lucas mit seinem Traumleben und der
"lec Amadeus mit dem gespenstigen zweiten Gesicht. Sie passen durchaus nicht
Ton und Haltung des Ganzen.

In seiner Darstellung ist da, wo er beschreibt, sehr viel Schönes. Der
"lec Stadtgraben im Anfange, der Marstall des Königs sind mit virtuosen De-
lebendig gemacht. Auch das gesellige Treibe" der Menschen, das Stuttgarter
H onvrativrenleben, die florentinischen Nächte kaun man sich als novellistische Skizzen'^r wohl gefallen lassen. Nicht so glücklich ist er dann, wenn er durch seine
Beschreibung eine besondere Stimmung hervorbringen will. Bei dergleichen Ex¬
ner erscheint er als nicht geschickter Nachahmer von Boz; z. B. die Schilde-
U'ug des Bergsees, des Herbstes, Genua's n. s. w. Da aber, wo er die Mer-
^)en in bedeutsamer Handlung genau und bis ins Einzelne zu charcckteri-
^en hat, werden seine Farben vollends schwach, und die großen Momente des
^nians machen durchaus nicht den gewünschten Eindruck.

Der Hauptübelstand des Buches endlich ist die schlotterige Form des Gan-
der vollständige Mangel an Komposition. Es ist keine Entschuldigung, daß
^' der gefährlichen Sitte gefolgt ist, deu Roman für das Feuilleton einer großen


Grenzboten. IV. ->8del. 3i

Die Anschauung, welche er von den Personen hat, ist fast immer unvollständig.
Es ist nicht das tiefe Verstehen ihres ganzen Wesens und eine souveraine Be¬
herrschung ihrer Natur, welche ihm möglich macht, dieselben in den verschiedensten
Situationen in ihrer charakteristischen Bestimmtheit deutlich zu schauen und dar¬
zustellen, sondern es sind fast immer einzelne hervorstechende Züge und Sei¬
ten ihres Wesens, in welchen er mit Liebe verweilt, und die er in den verschie¬
denen Situationen variirt; eine Eigenschaft, durch welche freilich auch Boz zu¬
weilen eingeengt ist, die aber bei der sehr glänzenden Darstellung desselben in
der Regel verdeckt wird. Ja noch mehr, das Empfinden der Charaktere ist bei
Hackländer, — ob ans Flüchtigkeit, oder aus Maugel an Dichterkraft, wage ich
"icht zu entscheiden — so unvollständig, daß er dieselbe durch ganz willkürliche
und nicht mehr charakteristische Einfälle zu specialisiren sucht. Z. B. daß die
"lec Jungfer Kiliane die Möbeln in ihrer kleinen Stube seil vielen Jahren nicht
ZU Ordnung gestellt hat; daß Doctor Stechmeyer, eine für deu Roman ganz un-
"ütze Figur, deren Charakteristik ihm aus Gründe», die nicht Hieher gehören,
vollständig mißlungen ist, in einem Schrank wohnt, u. s. w. Der mit Liebe ge¬
zeichneten Personen sind auch im Ganzen nnr wenige: der Schneider Dübel und
der Kutscher Joseph. Die vornehmen Herren und die zahlreichen unglücklichen
Mädchen sind nicht so dargestellt, daß man ein menschliches Interesse an ihnen
nehmen kann, es ist überall die Flüchtigkeit sichtbar, und daß der Verfasser älter¬
en Einfälle gehabt hat, nach welchen er sie in beliebige Situationen hineinwirft.

Am ungeschicktesten sind aber einzelne phantastische Personen, welche in der
nüchternen Gegenwart und der behaglichen verständigen Erzähluugsweise deS Verf.
^echt geschmacklos herumwandeln: der Jäger Lucas mit seinem Traumleben und der
"lec Amadeus mit dem gespenstigen zweiten Gesicht. Sie passen durchaus nicht
Ton und Haltung des Ganzen.

In seiner Darstellung ist da, wo er beschreibt, sehr viel Schönes. Der
"lec Stadtgraben im Anfange, der Marstall des Königs sind mit virtuosen De-
lebendig gemacht. Auch das gesellige Treibe» der Menschen, das Stuttgarter
H onvrativrenleben, die florentinischen Nächte kaun man sich als novellistische Skizzen'^r wohl gefallen lassen. Nicht so glücklich ist er dann, wenn er durch seine
Beschreibung eine besondere Stimmung hervorbringen will. Bei dergleichen Ex¬
ner erscheint er als nicht geschickter Nachahmer von Boz; z. B. die Schilde-
U'ug des Bergsees, des Herbstes, Genua's n. s. w. Da aber, wo er die Mer-
^)en in bedeutsamer Handlung genau und bis ins Einzelne zu charcckteri-
^en hat, werden seine Farben vollends schwach, und die großen Momente des
^nians machen durchaus nicht den gewünschten Eindruck.

Der Hauptübelstand des Buches endlich ist die schlotterige Form des Gan-
der vollständige Mangel an Komposition. Es ist keine Entschuldigung, daß
^' der gefährlichen Sitte gefolgt ist, deu Roman für das Feuilleton einer großen


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[0269] Die Anschauung, welche er von den Personen hat, ist fast immer unvollständig. Es ist nicht das tiefe Verstehen ihres ganzen Wesens und eine souveraine Be¬ herrschung ihrer Natur, welche ihm möglich macht, dieselben in den verschiedensten Situationen in ihrer charakteristischen Bestimmtheit deutlich zu schauen und dar¬ zustellen, sondern es sind fast immer einzelne hervorstechende Züge und Sei¬ ten ihres Wesens, in welchen er mit Liebe verweilt, und die er in den verschie¬ denen Situationen variirt; eine Eigenschaft, durch welche freilich auch Boz zu¬ weilen eingeengt ist, die aber bei der sehr glänzenden Darstellung desselben in der Regel verdeckt wird. Ja noch mehr, das Empfinden der Charaktere ist bei Hackländer, — ob ans Flüchtigkeit, oder aus Maugel an Dichterkraft, wage ich "icht zu entscheiden — so unvollständig, daß er dieselbe durch ganz willkürliche und nicht mehr charakteristische Einfälle zu specialisiren sucht. Z. B. daß die "lec Jungfer Kiliane die Möbeln in ihrer kleinen Stube seil vielen Jahren nicht ZU Ordnung gestellt hat; daß Doctor Stechmeyer, eine für deu Roman ganz un- "ütze Figur, deren Charakteristik ihm aus Gründe», die nicht Hieher gehören, vollständig mißlungen ist, in einem Schrank wohnt, u. s. w. Der mit Liebe ge¬ zeichneten Personen sind auch im Ganzen nnr wenige: der Schneider Dübel und der Kutscher Joseph. Die vornehmen Herren und die zahlreichen unglücklichen Mädchen sind nicht so dargestellt, daß man ein menschliches Interesse an ihnen nehmen kann, es ist überall die Flüchtigkeit sichtbar, und daß der Verfasser älter¬ en Einfälle gehabt hat, nach welchen er sie in beliebige Situationen hineinwirft. Am ungeschicktesten sind aber einzelne phantastische Personen, welche in der nüchternen Gegenwart und der behaglichen verständigen Erzähluugsweise deS Verf. ^echt geschmacklos herumwandeln: der Jäger Lucas mit seinem Traumleben und der "lec Amadeus mit dem gespenstigen zweiten Gesicht. Sie passen durchaus nicht Ton und Haltung des Ganzen. In seiner Darstellung ist da, wo er beschreibt, sehr viel Schönes. Der "lec Stadtgraben im Anfange, der Marstall des Königs sind mit virtuosen De- lebendig gemacht. Auch das gesellige Treibe» der Menschen, das Stuttgarter H onvrativrenleben, die florentinischen Nächte kaun man sich als novellistische Skizzen'^r wohl gefallen lassen. Nicht so glücklich ist er dann, wenn er durch seine Beschreibung eine besondere Stimmung hervorbringen will. Bei dergleichen Ex¬ ner erscheint er als nicht geschickter Nachahmer von Boz; z. B. die Schilde- U'ug des Bergsees, des Herbstes, Genua's n. s. w. Da aber, wo er die Mer- ^)en in bedeutsamer Handlung genau und bis ins Einzelne zu charcckteri- ^en hat, werden seine Farben vollends schwach, und die großen Momente des ^nians machen durchaus nicht den gewünschten Eindruck. Der Hauptübelstand des Buches endlich ist die schlotterige Form des Gan- der vollständige Mangel an Komposition. Es ist keine Entschuldigung, daß ^' der gefährlichen Sitte gefolgt ist, deu Roman für das Feuilleton einer großen Grenzboten. IV. ->8del. 3i

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/269>, abgerufen am 23.07.2024.