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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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haben soll: eine glänzende Phantasie und einen natürlichen richtigen Jnstinct, der
sich auch in dem verwickeltsten Labyrinth zurechtzufinden weiß.

Die erste besitzt Heine in hohem Grade, und sie ist es vorzugsweise, die ihn
von den Dichtern der Schlegel'sehen Schule unterscheidet; denn in seinen Inten¬
tionen hat er mit ihnen viel Aehnlichkeit. Auch ihnen war der Inhalt, den sie aus
dem Mittelalter und dem Orient zusammensuchten, nicht die Hauptsache, soudern
die Willkür der freien Phantasie, die über den Stoffen im Aether schwebte. Ich
erinnere mich an eine Recension Schlegel's über Parny's Götterkrieg, in der er
seine Ansichten von dem echten Kunstwerk des transcendentalen Idealismus in
einer Weise entwickelt, die auf Heine vollkommen Anwendung finden würde. Aber
einerseits reichte die Phantasie der Romantiker nicht dazu aus, die trotz aller Polemik
Hegen deu herrschenden Dogmatismus doch immer in einem sehr engen Kreise cvn-
dcntivneller Vorstellungen vom Schönen und Erhabenen befangen blieb. Anderer¬
seits war ihr Gemüth nicht frei, und ihre Ironie hatte daher keine besondere
Tragweite. In ihren frivolsten Producten, z. B. in der Lucinde, merkt man
ünmer die künstliche Anspannung der Phantasie, die gleichsam aus Pflicht frech ist;
es ist keine unmittelbare Lust an der Zügellosigkeit. Bei Heine dagegen auch in
den schlechtesten Gedichten finden wir dasselbe ursprüngliche und naturwüchsige
Behagen an der umgekehrten Welt, wie es Falstaff zeigt, und viele seiner Phan¬
tasien, z. B. die Maßmann'sche Episode in seinem Romancero, könnten eben so
At von Falstaff herrühren. Von fixen Ideen in der Sittlichkeit oder der
Aesthetik ist er nicht eingeengt; sein Gemüth spielt in grenzenloser Freiheit mit den
Ideen wie mit den Gegenständen, und diese Freiheit hat er sich nicht erst kunst-
"es angeeignet, sondern sie ist sein Lebenselement, in dem er athmet, das ihn
"och ans dein Sterbebette nicht verläßt.

Falstaff hat auch in der Poesie seine vollkommene Berechtigung, und Goethe
^de seinen lieben Gott mit vollem Recht sagen: von allen Geister", die ver¬
einen, ist mir der Schalk am wenigsten zur Last. Nur wird der Schalk sehr
iMhrlich in einer Zeit, die ihm keinen Widerstand entgegensetzen kann, weil sie
^'er ihre eigenen sittlichen Vorstellungen im Unklaren ist. In dem Zeitalter eines
Sophokles, Thucydides und Sokrates diente die umgekehrte Weltanschauung eines
Ach'tophanes nur dazu, deu Glanz der Ideale zu erhöhen. Bei uns hat der son-
"eraine Witz eine gefährlichere Stellung. Weil wir selber keinen festen Halt
haben, so nennt er uns gefangen, und wir glauben an ihm das positive Ideal zu
^'hen. Der größere Theil der modernen deutschen Poesie ist in Heine's Fuß-
^Psen getreten, und hat mit schwächeren Kräften und geringerer Freiheit das
Chaos zu rechtfertigen gesucht, und das Publicum hat sich vollkommen genügt,
>venu es diesen Gaukeleien lauschte, und ist dann wie nach wohl vollbrachtem
Tagewerk mit sorgenfreiem Gewissen zur Ruhe gegangen. In einem Volke, wo
Uebrigen die politischen Interessen mit Ernst und Ausdauer getrieben werden,


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haben soll: eine glänzende Phantasie und einen natürlichen richtigen Jnstinct, der
sich auch in dem verwickeltsten Labyrinth zurechtzufinden weiß.

Die erste besitzt Heine in hohem Grade, und sie ist es vorzugsweise, die ihn
von den Dichtern der Schlegel'sehen Schule unterscheidet; denn in seinen Inten¬
tionen hat er mit ihnen viel Aehnlichkeit. Auch ihnen war der Inhalt, den sie aus
dem Mittelalter und dem Orient zusammensuchten, nicht die Hauptsache, soudern
die Willkür der freien Phantasie, die über den Stoffen im Aether schwebte. Ich
erinnere mich an eine Recension Schlegel's über Parny's Götterkrieg, in der er
seine Ansichten von dem echten Kunstwerk des transcendentalen Idealismus in
einer Weise entwickelt, die auf Heine vollkommen Anwendung finden würde. Aber
einerseits reichte die Phantasie der Romantiker nicht dazu aus, die trotz aller Polemik
Hegen deu herrschenden Dogmatismus doch immer in einem sehr engen Kreise cvn-
dcntivneller Vorstellungen vom Schönen und Erhabenen befangen blieb. Anderer¬
seits war ihr Gemüth nicht frei, und ihre Ironie hatte daher keine besondere
Tragweite. In ihren frivolsten Producten, z. B. in der Lucinde, merkt man
ünmer die künstliche Anspannung der Phantasie, die gleichsam aus Pflicht frech ist;
es ist keine unmittelbare Lust an der Zügellosigkeit. Bei Heine dagegen auch in
den schlechtesten Gedichten finden wir dasselbe ursprüngliche und naturwüchsige
Behagen an der umgekehrten Welt, wie es Falstaff zeigt, und viele seiner Phan¬
tasien, z. B. die Maßmann'sche Episode in seinem Romancero, könnten eben so
At von Falstaff herrühren. Von fixen Ideen in der Sittlichkeit oder der
Aesthetik ist er nicht eingeengt; sein Gemüth spielt in grenzenloser Freiheit mit den
Ideen wie mit den Gegenständen, und diese Freiheit hat er sich nicht erst kunst-
"es angeeignet, sondern sie ist sein Lebenselement, in dem er athmet, das ihn
"och ans dein Sterbebette nicht verläßt.

Falstaff hat auch in der Poesie seine vollkommene Berechtigung, und Goethe
^de seinen lieben Gott mit vollem Recht sagen: von allen Geister», die ver¬
einen, ist mir der Schalk am wenigsten zur Last. Nur wird der Schalk sehr
iMhrlich in einer Zeit, die ihm keinen Widerstand entgegensetzen kann, weil sie
^'er ihre eigenen sittlichen Vorstellungen im Unklaren ist. In dem Zeitalter eines
Sophokles, Thucydides und Sokrates diente die umgekehrte Weltanschauung eines
Ach'tophanes nur dazu, deu Glanz der Ideale zu erhöhen. Bei uns hat der son-
"eraine Witz eine gefährlichere Stellung. Weil wir selber keinen festen Halt
haben, so nennt er uns gefangen, und wir glauben an ihm das positive Ideal zu
^'hen. Der größere Theil der modernen deutschen Poesie ist in Heine's Fuß-
^Psen getreten, und hat mit schwächeren Kräften und geringerer Freiheit das
Chaos zu rechtfertigen gesucht, und das Publicum hat sich vollkommen genügt,
>venu es diesen Gaukeleien lauschte, und ist dann wie nach wohl vollbrachtem
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Uebrigen die politischen Interessen mit Ernst und Ausdauer getrieben werden,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/247>, abgerufen am 23.07.2024.