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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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der Katharine Emmerich, einer hcißglänbigeu Katholikin, bei der sich die eigen¬
thümliche Erscheinung der Stigmatisation zeigte, d> h. der Aufnahme der Wunden
Jesu in den Leib. Sie war in das Kloster gegangen, bis dasselbe 1811 aufge¬
löst wurde, nud im Jahre 182i gestorben. Wie es mit dem natürlichen Zusam¬
menhang jener Wundererscheinungen beschaffen sei, geht uns hier nichts an, wir
haben es nnr mit der Auffassung des Dichters zu thun. Dieser steht in den
fürchterlichen Schmerzen und Verrenkungen, die durch den rasendsten Aberglaube"
entweder geradezu hervorgebracht werden, oder doch wenigstens ihre Färbung er¬
halten, ein erbauliches und preiswürdigcö Wunder der göttlichen Liebe, vor dem
er sich mit Andacht und Entzückung niederwirft. Diese katholische Inbrunst will
denn doch uoch etwas ganz Anderes sagen, als die Geisterseherei unsres
Freundes Justinus Karner, denn es athmet jener teuflische Geist darin, der die
Hexenprocesse und ähnliche Unthaten hervorgerufen hat und wohl geeignet ist,
der Menschheit Schauder vor sich selbst einzuflößen, wenn sie in den Spiegel
ihrer Geschichte blickt. Man hat mit der Poesie dieses Aberglaubens in den Zeiten
der romantischen Schule coquettirt, wie mau mit Jesus Christus und mit der
Weiberemancipation coquettirte. Wir konnten in neuester Zeit wol zu dem Ernst
gekommen sein, in dieser Selbstbestecknng der Phantasie die schlimmste Verirrung
des Geistes und des Herzens zu finden.

Sonderbarer Weise steht Brentano in seinen Ansichten keineswegs auf
gleichem Boden mit der romantischen Schule; er ironisirt sie beständig trotz ihrer
nahen Verwandtschaft; er ironisirt die Fonquvsche Eiseufrefserei, er ironisirt d>e
Geisterseher, die das Nachtgcbiet der Natur durchreisen, die gelehrten Gesell¬
schaften zur Wiederherstellung des Aberglaubens, die mystischen Naturphilosoph^
die im Märchen eine höhere Wahrheit finden als in der Geschichte, die An¬
tiquare, die auf Volkslieder und Naturwuchs Jagd macheu, und trotzdem treibt
er all diese Tollheiten in einer ärgern Art als alle seine Glaubensgenossen.

Wir gehen jetzt zum ersten Bande über, der die geistlichen Lieder enthalt,
zum großen Theil noch ungedruckte Sachen. Es ist in diesen Liedern vieles
Schöne. Brentano versteht es, eine poetische Stimmung anzuschlagen und sie
Fluß zu erhalten. Wie sein Schwager nud Glaubensgenosse Arnim hat er few^
Lyrik vorzugsweise nach dem Muster des Volksliedes gebildet, und er weiß in
diesen Nachahmungen wenigstens zuweilen den Ton glücklich zu treffen; allein der
Eindruck ist doch höchst selten ganz rein. Brentano vergißt, daß der Ton de
Volksliedes idealisirt werden muß, wenn er in der eigentlichen Poesie Rauw
finden soll. Das springende, Unklare der volkstümlichen Ballade hat für M
nur insofern Reiz, als wir darin ein Naturprodnct erkennen. Wenn man die^
Irrationalitäten des Naturwnchscs künstlich nachahmen will, so verfällt man
ein geziertes Wesen. Ans dieser falschen Nachahmung erkläre ich mir die scur-
rilen Einfälle, welche sich auf irgend eine bestimmte empirische Anschauung beziehen,


der Katharine Emmerich, einer hcißglänbigeu Katholikin, bei der sich die eigen¬
thümliche Erscheinung der Stigmatisation zeigte, d> h. der Aufnahme der Wunden
Jesu in den Leib. Sie war in das Kloster gegangen, bis dasselbe 1811 aufge¬
löst wurde, nud im Jahre 182i gestorben. Wie es mit dem natürlichen Zusam¬
menhang jener Wundererscheinungen beschaffen sei, geht uns hier nichts an, wir
haben es nnr mit der Auffassung des Dichters zu thun. Dieser steht in den
fürchterlichen Schmerzen und Verrenkungen, die durch den rasendsten Aberglaube»
entweder geradezu hervorgebracht werden, oder doch wenigstens ihre Färbung er¬
halten, ein erbauliches und preiswürdigcö Wunder der göttlichen Liebe, vor dem
er sich mit Andacht und Entzückung niederwirft. Diese katholische Inbrunst will
denn doch uoch etwas ganz Anderes sagen, als die Geisterseherei unsres
Freundes Justinus Karner, denn es athmet jener teuflische Geist darin, der die
Hexenprocesse und ähnliche Unthaten hervorgerufen hat und wohl geeignet ist,
der Menschheit Schauder vor sich selbst einzuflößen, wenn sie in den Spiegel
ihrer Geschichte blickt. Man hat mit der Poesie dieses Aberglaubens in den Zeiten
der romantischen Schule coquettirt, wie mau mit Jesus Christus und mit der
Weiberemancipation coquettirte. Wir konnten in neuester Zeit wol zu dem Ernst
gekommen sein, in dieser Selbstbestecknng der Phantasie die schlimmste Verirrung
des Geistes und des Herzens zu finden.

Sonderbarer Weise steht Brentano in seinen Ansichten keineswegs auf
gleichem Boden mit der romantischen Schule; er ironisirt sie beständig trotz ihrer
nahen Verwandtschaft; er ironisirt die Fonquvsche Eiseufrefserei, er ironisirt d>e
Geisterseher, die das Nachtgcbiet der Natur durchreisen, die gelehrten Gesell¬
schaften zur Wiederherstellung des Aberglaubens, die mystischen Naturphilosoph^
die im Märchen eine höhere Wahrheit finden als in der Geschichte, die An¬
tiquare, die auf Volkslieder und Naturwuchs Jagd macheu, und trotzdem treibt
er all diese Tollheiten in einer ärgern Art als alle seine Glaubensgenossen.

Wir gehen jetzt zum ersten Bande über, der die geistlichen Lieder enthalt,
zum großen Theil noch ungedruckte Sachen. Es ist in diesen Liedern vieles
Schöne. Brentano versteht es, eine poetische Stimmung anzuschlagen und sie
Fluß zu erhalten. Wie sein Schwager nud Glaubensgenosse Arnim hat er few^
Lyrik vorzugsweise nach dem Muster des Volksliedes gebildet, und er weiß in
diesen Nachahmungen wenigstens zuweilen den Ton glücklich zu treffen; allein der
Eindruck ist doch höchst selten ganz rein. Brentano vergißt, daß der Ton de
Volksliedes idealisirt werden muß, wenn er in der eigentlichen Poesie Rauw
finden soll. Das springende, Unklare der volkstümlichen Ballade hat für M
nur insofern Reiz, als wir darin ein Naturprodnct erkennen. Wenn man die^
Irrationalitäten des Naturwnchscs künstlich nachahmen will, so verfällt man
ein geziertes Wesen. Ans dieser falschen Nachahmung erkläre ich mir die scur-
rilen Einfälle, welche sich auf irgend eine bestimmte empirische Anschauung beziehen,


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[0210] der Katharine Emmerich, einer hcißglänbigeu Katholikin, bei der sich die eigen¬ thümliche Erscheinung der Stigmatisation zeigte, d> h. der Aufnahme der Wunden Jesu in den Leib. Sie war in das Kloster gegangen, bis dasselbe 1811 aufge¬ löst wurde, nud im Jahre 182i gestorben. Wie es mit dem natürlichen Zusam¬ menhang jener Wundererscheinungen beschaffen sei, geht uns hier nichts an, wir haben es nnr mit der Auffassung des Dichters zu thun. Dieser steht in den fürchterlichen Schmerzen und Verrenkungen, die durch den rasendsten Aberglaube» entweder geradezu hervorgebracht werden, oder doch wenigstens ihre Färbung er¬ halten, ein erbauliches und preiswürdigcö Wunder der göttlichen Liebe, vor dem er sich mit Andacht und Entzückung niederwirft. Diese katholische Inbrunst will denn doch uoch etwas ganz Anderes sagen, als die Geisterseherei unsres Freundes Justinus Karner, denn es athmet jener teuflische Geist darin, der die Hexenprocesse und ähnliche Unthaten hervorgerufen hat und wohl geeignet ist, der Menschheit Schauder vor sich selbst einzuflößen, wenn sie in den Spiegel ihrer Geschichte blickt. Man hat mit der Poesie dieses Aberglaubens in den Zeiten der romantischen Schule coquettirt, wie mau mit Jesus Christus und mit der Weiberemancipation coquettirte. Wir konnten in neuester Zeit wol zu dem Ernst gekommen sein, in dieser Selbstbestecknng der Phantasie die schlimmste Verirrung des Geistes und des Herzens zu finden. Sonderbarer Weise steht Brentano in seinen Ansichten keineswegs auf gleichem Boden mit der romantischen Schule; er ironisirt sie beständig trotz ihrer nahen Verwandtschaft; er ironisirt die Fonquvsche Eiseufrefserei, er ironisirt d>e Geisterseher, die das Nachtgcbiet der Natur durchreisen, die gelehrten Gesell¬ schaften zur Wiederherstellung des Aberglaubens, die mystischen Naturphilosoph^ die im Märchen eine höhere Wahrheit finden als in der Geschichte, die An¬ tiquare, die auf Volkslieder und Naturwuchs Jagd macheu, und trotzdem treibt er all diese Tollheiten in einer ärgern Art als alle seine Glaubensgenossen. Wir gehen jetzt zum ersten Bande über, der die geistlichen Lieder enthalt, zum großen Theil noch ungedruckte Sachen. Es ist in diesen Liedern vieles Schöne. Brentano versteht es, eine poetische Stimmung anzuschlagen und sie Fluß zu erhalten. Wie sein Schwager nud Glaubensgenosse Arnim hat er few^ Lyrik vorzugsweise nach dem Muster des Volksliedes gebildet, und er weiß in diesen Nachahmungen wenigstens zuweilen den Ton glücklich zu treffen; allein der Eindruck ist doch höchst selten ganz rein. Brentano vergißt, daß der Ton de Volksliedes idealisirt werden muß, wenn er in der eigentlichen Poesie Rauw finden soll. Das springende, Unklare der volkstümlichen Ballade hat für M nur insofern Reiz, als wir darin ein Naturprodnct erkennen. Wenn man die^ Irrationalitäten des Naturwnchscs künstlich nachahmen will, so verfällt man ein geziertes Wesen. Ans dieser falschen Nachahmung erkläre ich mir die scur- rilen Einfälle, welche sich auf irgend eine bestimmte empirische Anschauung beziehen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/210>, abgerufen am 24.07.2024.