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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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Die Novellen sind reich an guten Beobachtungen und frei von dem Schwulst des
gewöhnlichen Französische" Pathos; aber der Zufall und die Caprice walten so unbe¬
dingt in ihnen, die Charaktere sind so unberechenbar, die Form der Erzählung selbst so
unbestimmt, daß mau in der Regel nicht unterscheiden kann, was Ernst ist und
was Spaß, was Traum und was Wirklichkeit.. Zuweilen sehlt aller Schluß, und
man muß sehr eifrig darüber nachdenken, was mau eigentlich gelesen hat. Sie
bewegen sich übrigens stets in der Crome der Gesellschaft, im Salon, im Concert,
im Ball, am. Spieltisch, und zeigen wenigstens, daß der Dichter hier überall zu
Hause ist. In Beziehung auf ihre Unsittlichkeit übertreffen sie die kühnsten Er¬
findungen der modernen Feuilletonisten, und wenn man ans ihnen allein sich ein Bild
von dem jetzigen Paris machen wollte, so müßte man glauben, daß jedes Gefühl
des Unterschiedes zwischen Gut und Böse vollständig verloren gegangen sei.

Am Meisten fällt es bei seinen Dramen auf, daß er durch die Lecture an¬
geregt ist und nur für die Lecture schreibt. -- So wie schon in seinen lyrischen
Gedichten die Bilder zum Theil ganz ans der Welt der Buchstaben genommen
sind, wie er z. B. einmal den Mond, der über einem Thurme scheint, mit dem
Punkt über dem i vergleicht, und diesen Einfall sogar in einen Refrain aus¬
arbeitet, so kann er sich auch in seinen Dramen nicht enthalten, mitten in der
Darstellung der Geschichte plötzlich auf einen literarischen Gegenstand zu kommen
und darüber zu discutiren; ja, in der höchsten Leidenschaft vergleichen sich seine
Helden und Heldinnen mit irgend einer Theaterfignr. Alfred de Musset hat
über diese Einseitigkeit seiner Dichtungen ein vollständiges Bewußtsein; er
überschreibt die eine Sammlung seiner Dramen: kpeol^Llv äg,us un lÄutsuU,
die andere: I^v-z evnMieg iiyouadlos, und in der That sind einige derselben se
zusammenhanglos, daß man kaum eine Ahnung davon hat, was vorgeht, "ud
daß im Vergleich damit der zweite Theil des Faust als eine sehr wohlberech-
nete, klare und verständliche Handlung erscheint. Er hat sich daher in der
spätern Zeit vorzugsweise auf das Genre geworfen, über dessen relativen Werth
wir uus im Früheren ausgesprochen haben, auf das Proverbe, und er hat den
gerechten Ruhm davongetragen, der geistvollste und graziöseste Dichter dieser
Spielart zu sein. Man hat auch versucht, diese Dichtungen aufzuführen, aber
dazu sind sie nicht gemacht, denn die Charaktere sind so individuell gehalten, der
Zusammenhang so leicht skizzirt, und die einzelnen Züge so sein, so versteckt und
so wenig mit einander vermittelt, daß es unmöglich ist, die Pointe auch nur zu
errathen, wenn man nicht Zeit hat, sich zuweilen zu besinnen. Von seinen eigens
lichen Theaterstücken kenne ich nur eins: Louisou, und dieses gehört genau w
die nämliche Kategorie. Für die Lecture sind die Stücke sehr werthvoll, es l>
alle Fülle des Französischen Esprit darin aufgeboten, und die Sprache von einer
Zierlichkeit, wie sie an die besten Zeiten des alten Klassicismus erinnert. Fr"-
lich ist der Eindruck doch kein reiner, denn man ist nicht klar über die Herr-


Die Novellen sind reich an guten Beobachtungen und frei von dem Schwulst des
gewöhnlichen Französische» Pathos; aber der Zufall und die Caprice walten so unbe¬
dingt in ihnen, die Charaktere sind so unberechenbar, die Form der Erzählung selbst so
unbestimmt, daß mau in der Regel nicht unterscheiden kann, was Ernst ist und
was Spaß, was Traum und was Wirklichkeit.. Zuweilen sehlt aller Schluß, und
man muß sehr eifrig darüber nachdenken, was mau eigentlich gelesen hat. Sie
bewegen sich übrigens stets in der Crome der Gesellschaft, im Salon, im Concert,
im Ball, am. Spieltisch, und zeigen wenigstens, daß der Dichter hier überall zu
Hause ist. In Beziehung auf ihre Unsittlichkeit übertreffen sie die kühnsten Er¬
findungen der modernen Feuilletonisten, und wenn man ans ihnen allein sich ein Bild
von dem jetzigen Paris machen wollte, so müßte man glauben, daß jedes Gefühl
des Unterschiedes zwischen Gut und Böse vollständig verloren gegangen sei.

Am Meisten fällt es bei seinen Dramen auf, daß er durch die Lecture an¬
geregt ist und nur für die Lecture schreibt. — So wie schon in seinen lyrischen
Gedichten die Bilder zum Theil ganz ans der Welt der Buchstaben genommen
sind, wie er z. B. einmal den Mond, der über einem Thurme scheint, mit dem
Punkt über dem i vergleicht, und diesen Einfall sogar in einen Refrain aus¬
arbeitet, so kann er sich auch in seinen Dramen nicht enthalten, mitten in der
Darstellung der Geschichte plötzlich auf einen literarischen Gegenstand zu kommen
und darüber zu discutiren; ja, in der höchsten Leidenschaft vergleichen sich seine
Helden und Heldinnen mit irgend einer Theaterfignr. Alfred de Musset hat
über diese Einseitigkeit seiner Dichtungen ein vollständiges Bewußtsein; er
überschreibt die eine Sammlung seiner Dramen: kpeol^Llv äg,us un lÄutsuU,
die andere: I^v-z evnMieg iiyouadlos, und in der That sind einige derselben se
zusammenhanglos, daß man kaum eine Ahnung davon hat, was vorgeht, »ud
daß im Vergleich damit der zweite Theil des Faust als eine sehr wohlberech-
nete, klare und verständliche Handlung erscheint. Er hat sich daher in der
spätern Zeit vorzugsweise auf das Genre geworfen, über dessen relativen Werth
wir uus im Früheren ausgesprochen haben, auf das Proverbe, und er hat den
gerechten Ruhm davongetragen, der geistvollste und graziöseste Dichter dieser
Spielart zu sein. Man hat auch versucht, diese Dichtungen aufzuführen, aber
dazu sind sie nicht gemacht, denn die Charaktere sind so individuell gehalten, der
Zusammenhang so leicht skizzirt, und die einzelnen Züge so sein, so versteckt und
so wenig mit einander vermittelt, daß es unmöglich ist, die Pointe auch nur zu
errathen, wenn man nicht Zeit hat, sich zuweilen zu besinnen. Von seinen eigens
lichen Theaterstücken kenne ich nur eins: Louisou, und dieses gehört genau w
die nämliche Kategorie. Für die Lecture sind die Stücke sehr werthvoll, es l>
alle Fülle des Französischen Esprit darin aufgeboten, und die Sprache von einer
Zierlichkeit, wie sie an die besten Zeiten des alten Klassicismus erinnert. Fr"-
lich ist der Eindruck doch kein reiner, denn man ist nicht klar über die Herr-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/494>, abgerufen am 04.07.2024.