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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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süßen Erfahrungen, die uns wol Keinem erspart bleiben, den schönen poetischen
Träumen der Jugend zweifelnd den Rücken zu kehren.

In Prag siel mir auf, daß die jungen Leute, die sich den Studien widmen,
einen Stolz darauf legen, sich^dnrch Brillen, die ihnen ein gelehrtes Aussehen
verleihen sollen, das gesunde, Auge zu verderben. Hier sucht man zwar kein ge¬
lehrtes Aussehen zu erlangen, aber man huldigt noch verschiedenen Aeußerlich-
keiten, durch die man seinem Alter vorzncilen strebt. Die Prager wollen früh¬
zeitig unter die Propheten gehen, die Pariser wollen früher, als-gut wäre, mit
den berauschenden Vergnügungen der großen Verführerin Lutetia Bekanntschaft
machen. Das Leben der Pariser Studenten ist eine Französische Uebersetzung
des Burscheulebens; man darf nur der Bierkanne die Grisette und dem Fecht¬
boden den ?r.-rav oder ein>8vri<; in^ unterstellen, und man kann sich vom nebli¬
gen sehr leicht eine richtige Idee machen. Die Grisette ist das Alpha und Omega
des Pariser Studentenlebens. Ein hiesiger Studiosus spricht von "ma temws".
wie ein Deutscher Spießbürger von seinem Weibe sprechen möchte. In Paris
sind übrigens blos der Student und der Arbeiter so glücklich, leinenes zu habe".
Der Bourgeois hat eine luaämm? oder Lpousc; -- die Aristokratie hat eine maclamk
!" burcinu" oder maäam" !a "omtvssk. und beide haben sie maitr"88"8. Nur
der Student und der ttuvriör sind mit lczmwv" beglückt.

Es gab eine Zeit in Paris, wo die Studenten das ausschließliche Privile¬
gium hatten, den Grisetten unentgeldliche Lectionen in der Liebe zu geben. Damals
hatte das Zusammenleben dieser jungen Leute noch etwas Rührendes, Poetisches,
denn es war uneigennützig, eine Vereinigung, die in der gegenseitigen Anhang'
lichkeit ihre Entschuldigung fand. Es war nicht die Liebe, welche Knigge den
jungen Leuten zu ihrer Ausbildung und Entwickelung empfohlen, aber Knigge
schrieb für Deutsche, und im (Mi-teor I-Um sieht man das Leben eben nicht
Deutsch, sondern Französisch an. Aber ach! diese Zeit ist längst vorüber; die
Grisette droht nach und nach ausznsterbeu, und nur in der Freundin des Arbei¬
ters kann man noch hier und da diese liebenswürdige seltene Species erkennen.
Die Grisette im Dachstübchen, die den ganzen Tag mit der Nadel beschäftigt ist,
und für die jungen nud alten Damen arbeitet, ihnen zu Reizen zu verhelfen, die
ihnen die Natur versagt; die Grisette, welche Morgens blühend wie eine Rose
und schmuck wie der Frühling in den weltbchcrrschenden Modesalon wandert, "in
erst spät Abends am Arme ihres Freundes in die trauliche Mansarde heimzu¬
kehren; die Grisette, welche die Woche über unausgesetzt arbeitet, um Sonntags
an der Seite ihres Geliebten von den ausgestandenen Mühen sich zu ergehen;
die Grisette mit dem netten Häubchen und dem niedlichen Füßchen, die über die
Straßen schwebt und mit seltsamer Coquetterie die huldigenden Blicke der Vor¬
übergehenden im Fluge erhascht, diese Grisette existirt jetzt zu Paris kaum mehr
dem Namen nach. Berangcrs Lisette wird bald nur eine Mythe sein, und wenn


süßen Erfahrungen, die uns wol Keinem erspart bleiben, den schönen poetischen
Träumen der Jugend zweifelnd den Rücken zu kehren.

In Prag siel mir auf, daß die jungen Leute, die sich den Studien widmen,
einen Stolz darauf legen, sich^dnrch Brillen, die ihnen ein gelehrtes Aussehen
verleihen sollen, das gesunde, Auge zu verderben. Hier sucht man zwar kein ge¬
lehrtes Aussehen zu erlangen, aber man huldigt noch verschiedenen Aeußerlich-
keiten, durch die man seinem Alter vorzncilen strebt. Die Prager wollen früh¬
zeitig unter die Propheten gehen, die Pariser wollen früher, als-gut wäre, mit
den berauschenden Vergnügungen der großen Verführerin Lutetia Bekanntschaft
machen. Das Leben der Pariser Studenten ist eine Französische Uebersetzung
des Burscheulebens; man darf nur der Bierkanne die Grisette und dem Fecht¬
boden den ?r.-rav oder ein>8vri<; in^ unterstellen, und man kann sich vom nebli¬
gen sehr leicht eine richtige Idee machen. Die Grisette ist das Alpha und Omega
des Pariser Studentenlebens. Ein hiesiger Studiosus spricht von „ma temws".
wie ein Deutscher Spießbürger von seinem Weibe sprechen möchte. In Paris
sind übrigens blos der Student und der Arbeiter so glücklich, leinenes zu habe».
Der Bourgeois hat eine luaämm? oder Lpousc; — die Aristokratie hat eine maclamk
!» burcinu« oder maäam« !a «omtvssk. und beide haben sie maitr«88«8. Nur
der Student und der ttuvriör sind mit lczmwv« beglückt.

Es gab eine Zeit in Paris, wo die Studenten das ausschließliche Privile¬
gium hatten, den Grisetten unentgeldliche Lectionen in der Liebe zu geben. Damals
hatte das Zusammenleben dieser jungen Leute noch etwas Rührendes, Poetisches,
denn es war uneigennützig, eine Vereinigung, die in der gegenseitigen Anhang'
lichkeit ihre Entschuldigung fand. Es war nicht die Liebe, welche Knigge den
jungen Leuten zu ihrer Ausbildung und Entwickelung empfohlen, aber Knigge
schrieb für Deutsche, und im (Mi-teor I-Um sieht man das Leben eben nicht
Deutsch, sondern Französisch an. Aber ach! diese Zeit ist längst vorüber; die
Grisette droht nach und nach ausznsterbeu, und nur in der Freundin des Arbei¬
ters kann man noch hier und da diese liebenswürdige seltene Species erkennen.
Die Grisette im Dachstübchen, die den ganzen Tag mit der Nadel beschäftigt ist,
und für die jungen nud alten Damen arbeitet, ihnen zu Reizen zu verhelfen, die
ihnen die Natur versagt; die Grisette, welche Morgens blühend wie eine Rose
und schmuck wie der Frühling in den weltbchcrrschenden Modesalon wandert, «in
erst spät Abends am Arme ihres Freundes in die trauliche Mansarde heimzu¬
kehren; die Grisette, welche die Woche über unausgesetzt arbeitet, um Sonntags
an der Seite ihres Geliebten von den ausgestandenen Mühen sich zu ergehen;
die Grisette mit dem netten Häubchen und dem niedlichen Füßchen, die über die
Straßen schwebt und mit seltsamer Coquetterie die huldigenden Blicke der Vor¬
übergehenden im Fluge erhascht, diese Grisette existirt jetzt zu Paris kaum mehr
dem Namen nach. Berangcrs Lisette wird bald nur eine Mythe sein, und wenn


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[0468] süßen Erfahrungen, die uns wol Keinem erspart bleiben, den schönen poetischen Träumen der Jugend zweifelnd den Rücken zu kehren. In Prag siel mir auf, daß die jungen Leute, die sich den Studien widmen, einen Stolz darauf legen, sich^dnrch Brillen, die ihnen ein gelehrtes Aussehen verleihen sollen, das gesunde, Auge zu verderben. Hier sucht man zwar kein ge¬ lehrtes Aussehen zu erlangen, aber man huldigt noch verschiedenen Aeußerlich- keiten, durch die man seinem Alter vorzncilen strebt. Die Prager wollen früh¬ zeitig unter die Propheten gehen, die Pariser wollen früher, als-gut wäre, mit den berauschenden Vergnügungen der großen Verführerin Lutetia Bekanntschaft machen. Das Leben der Pariser Studenten ist eine Französische Uebersetzung des Burscheulebens; man darf nur der Bierkanne die Grisette und dem Fecht¬ boden den ?r.-rav oder ein>8vri<; in^ unterstellen, und man kann sich vom nebli¬ gen sehr leicht eine richtige Idee machen. Die Grisette ist das Alpha und Omega des Pariser Studentenlebens. Ein hiesiger Studiosus spricht von „ma temws". wie ein Deutscher Spießbürger von seinem Weibe sprechen möchte. In Paris sind übrigens blos der Student und der Arbeiter so glücklich, leinenes zu habe». Der Bourgeois hat eine luaämm? oder Lpousc; — die Aristokratie hat eine maclamk !» burcinu« oder maäam« !a «omtvssk. und beide haben sie maitr«88«8. Nur der Student und der ttuvriör sind mit lczmwv« beglückt. Es gab eine Zeit in Paris, wo die Studenten das ausschließliche Privile¬ gium hatten, den Grisetten unentgeldliche Lectionen in der Liebe zu geben. Damals hatte das Zusammenleben dieser jungen Leute noch etwas Rührendes, Poetisches, denn es war uneigennützig, eine Vereinigung, die in der gegenseitigen Anhang' lichkeit ihre Entschuldigung fand. Es war nicht die Liebe, welche Knigge den jungen Leuten zu ihrer Ausbildung und Entwickelung empfohlen, aber Knigge schrieb für Deutsche, und im (Mi-teor I-Um sieht man das Leben eben nicht Deutsch, sondern Französisch an. Aber ach! diese Zeit ist längst vorüber; die Grisette droht nach und nach ausznsterbeu, und nur in der Freundin des Arbei¬ ters kann man noch hier und da diese liebenswürdige seltene Species erkennen. Die Grisette im Dachstübchen, die den ganzen Tag mit der Nadel beschäftigt ist, und für die jungen nud alten Damen arbeitet, ihnen zu Reizen zu verhelfen, die ihnen die Natur versagt; die Grisette, welche Morgens blühend wie eine Rose und schmuck wie der Frühling in den weltbchcrrschenden Modesalon wandert, «in erst spät Abends am Arme ihres Freundes in die trauliche Mansarde heimzu¬ kehren; die Grisette, welche die Woche über unausgesetzt arbeitet, um Sonntags an der Seite ihres Geliebten von den ausgestandenen Mühen sich zu ergehen; die Grisette mit dem netten Häubchen und dem niedlichen Füßchen, die über die Straßen schwebt und mit seltsamer Coquetterie die huldigenden Blicke der Vor¬ übergehenden im Fluge erhascht, diese Grisette existirt jetzt zu Paris kaum mehr dem Namen nach. Berangcrs Lisette wird bald nur eine Mythe sein, und wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/468>, abgerufen am 04.07.2024.