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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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der sich einmal ernstlich diesen Studien hingegeben hat. Es liegt das nicht allein
in der äußern Form; nicht allein in unsrer Sprache gewöhnen wir uns daran,
augenblicklich jede reale Anschauung in Allgemeinheiten, in Abstractionen zu über¬
setzen, sondern wir sehen anch allmählich nichts Anderes als Allgemeinheiten; in
der Weltgeschichte, wie in der Natur, interessirt uns nnr Dasjenige, dem wir
eine geistige Bedeutung unterlegen können; wir combiniren die Einzelnheiten in
der Welt der Erscheinung, bis sie sich nach einer gewisse" symbolischen Richtung
hin architektonische gruppiren, und darüber geht oft genug die sinnliche Realität
zu Grunde. Und so kommt es denn anch, daß wir den historischen Persönlich¬
keiten, die uns die Philosophie in einem höhern Sinne auffassen gelehrt hat,
diesen höhern Sinn unterlegen, der sie zu einem glänzenden Brennpunkt der
welthistorischen Evolution macht, der sie aber anch beinahe vollständig in diese
Beziehungen auflöst. Der Lyriker zerbröckelt die. Charaktere in einzelne Empfin¬
dungen und Reflexionen, der Philosoph zieht ihren Geist aus und versetzt sie in
eine Welt der Schatten. -- Dies vorausgesetzt, haben wir uns uun an das Ein¬
zelne zu halten. Das letzte Stück: "John, der Ziegler" (18i9), ist sieben
Jahre jünger als das erste, und enthält in sofern einen Fortschritt, als die Er¬
eignisse geschickter zusammengedrängt sind und die Intrigue klarer ausgesponnen
ist. Allein zu völliger dramatischer Freiheit hat sich auch hier der Dichter noch
nicht durchgearbeitet. Die poetischen Charaktere sind noch zu reflectirt gehalten,
ihr Denken und Empfinden spannt sich noch zu hoch, und durch eine natürliche
Reaction werden die prosaischen Charaktere zu sehr in die Trivialität herabge-
drückt. Ueberhaupt sollte man sich, schon um Shakspeare'sehe Reminiscenzen zu
vermeiden, davor hüten, die idealen und trivialen Charaktere durch den äußern
Unterschied des Rhythmus und der Prosa von einander zu trennen; denn na¬
mentlich in den Volksscenen drängen sich unsre Shakspeare'scheu Erinnerungen
so mächtig hervor, daß man sie kaum vermeiden kann. So ist es auch Gubitz
gegangen. Noch eine andere auf das Aeußere bezügliche Bemerkung. Wenn
man einmal die Prosa verschmäht, so muß man es mit dem Metrum genau neh¬
men. Wir sind an den fünffüßigen Jambus so gewöhnt, daß wir allmählich ganz
das Gefühl eiues Verses verlieren. Das ist aber unrecht; auch der fünffüßige
Jambus hat sein strenges Gesetz, wenn er den Wohlklang herbeiführen soll, der
doch der einzige Zweck des Verses ist. An den Schluß desselben Präpositionen,
Conjunctionen oder Artikel zu stellen, ist nicht erlaubt. In diesen Fehler verfällt
aber Herr Gubitz gar zu häufig, und er wird ihn nur vermeiden können, wenn er
seine Verse nicht mehr blos mit dem Auge, sondern mit dem Ohre prüft. -- Der
Inhalt des Stücks ist der bekannte Volksaufstand unter König Richard It. Viel¬
leicht wäre es zweckmäßiger gewesen, den Helden dieses Aufstandes nicht ganz
so ideal zu halten, als der Verfasser gethan hat. Mit einem solchen Aufstand
ist immer einiges Uebermaß der Empfindung und der Leidenschaft verknüpft, und


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der sich einmal ernstlich diesen Studien hingegeben hat. Es liegt das nicht allein
in der äußern Form; nicht allein in unsrer Sprache gewöhnen wir uns daran,
augenblicklich jede reale Anschauung in Allgemeinheiten, in Abstractionen zu über¬
setzen, sondern wir sehen anch allmählich nichts Anderes als Allgemeinheiten; in
der Weltgeschichte, wie in der Natur, interessirt uns nnr Dasjenige, dem wir
eine geistige Bedeutung unterlegen können; wir combiniren die Einzelnheiten in
der Welt der Erscheinung, bis sie sich nach einer gewisse» symbolischen Richtung
hin architektonische gruppiren, und darüber geht oft genug die sinnliche Realität
zu Grunde. Und so kommt es denn anch, daß wir den historischen Persönlich¬
keiten, die uns die Philosophie in einem höhern Sinne auffassen gelehrt hat,
diesen höhern Sinn unterlegen, der sie zu einem glänzenden Brennpunkt der
welthistorischen Evolution macht, der sie aber anch beinahe vollständig in diese
Beziehungen auflöst. Der Lyriker zerbröckelt die. Charaktere in einzelne Empfin¬
dungen und Reflexionen, der Philosoph zieht ihren Geist aus und versetzt sie in
eine Welt der Schatten. — Dies vorausgesetzt, haben wir uns uun an das Ein¬
zelne zu halten. Das letzte Stück: „John, der Ziegler" (18i9), ist sieben
Jahre jünger als das erste, und enthält in sofern einen Fortschritt, als die Er¬
eignisse geschickter zusammengedrängt sind und die Intrigue klarer ausgesponnen
ist. Allein zu völliger dramatischer Freiheit hat sich auch hier der Dichter noch
nicht durchgearbeitet. Die poetischen Charaktere sind noch zu reflectirt gehalten,
ihr Denken und Empfinden spannt sich noch zu hoch, und durch eine natürliche
Reaction werden die prosaischen Charaktere zu sehr in die Trivialität herabge-
drückt. Ueberhaupt sollte man sich, schon um Shakspeare'sehe Reminiscenzen zu
vermeiden, davor hüten, die idealen und trivialen Charaktere durch den äußern
Unterschied des Rhythmus und der Prosa von einander zu trennen; denn na¬
mentlich in den Volksscenen drängen sich unsre Shakspeare'scheu Erinnerungen
so mächtig hervor, daß man sie kaum vermeiden kann. So ist es auch Gubitz
gegangen. Noch eine andere auf das Aeußere bezügliche Bemerkung. Wenn
man einmal die Prosa verschmäht, so muß man es mit dem Metrum genau neh¬
men. Wir sind an den fünffüßigen Jambus so gewöhnt, daß wir allmählich ganz
das Gefühl eiues Verses verlieren. Das ist aber unrecht; auch der fünffüßige
Jambus hat sein strenges Gesetz, wenn er den Wohlklang herbeiführen soll, der
doch der einzige Zweck des Verses ist. An den Schluß desselben Präpositionen,
Conjunctionen oder Artikel zu stellen, ist nicht erlaubt. In diesen Fehler verfällt
aber Herr Gubitz gar zu häufig, und er wird ihn nur vermeiden können, wenn er
seine Verse nicht mehr blos mit dem Auge, sondern mit dem Ohre prüft. — Der
Inhalt des Stücks ist der bekannte Volksaufstand unter König Richard It. Viel¬
leicht wäre es zweckmäßiger gewesen, den Helden dieses Aufstandes nicht ganz
so ideal zu halten, als der Verfasser gethan hat. Mit einem solchen Aufstand
ist immer einiges Uebermaß der Empfindung und der Leidenschaft verknüpft, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/139>, abgerufen am 04.07.2024.