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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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in dem Lehrercollcginm findet man Russen und Deutsche, die Nichts weniger als Ge¬
lehrte sind, massenweise. Die Gymnasien sind dnrch diese Leute, welche mir in
einigen lebenden Sprachen und den gewöhnlichsten LebcuSwissenschaften bewandert
sind, zu Realschule" herabgesunken.

Die Verordnung, nach welcher die obersten beiden Klassen aufgehoben wurden,
und welche ein passender Nachtrag zu der 1832 stattgefundenen Aufhebung der
Polnischen Universität war, bezweckte ebenfalls eine höhere wissenschaftliche Bil¬
dung im Königreich Pole" unmöglich zu macheu, und deu Eingebornen nur Ansprüche
auf das niedrigste Amtswcsen z" lasse". Wer eine über der achten Slaatsbnr-
gerklasse stehende Charge bekleiden will, muß nicht blos einen vollständigen
Schnlcnrsus durchgemacht, sondern anch eine Universität besucht habe". So wäre"
die Polen gezwungen, noch el" Gymnasium und eine Universität in Rußland zu
beziehen. Dazu aber entschließt sich nicht leicht der Sprößling einer anständigen
Polnischen Familie; die untern Stände dagegen sind nicht in Besitz der Geld¬
mittel. Man kann nicht behaupte", daß die Regierung geradezu die Ausschlie¬
ßung der Pole" vom Staatswesen beabsichtige, denn sie sucht den Pole" de"
Besuch der Russische" Universität auf verschiedene Weise zu erleichtern. Allem
sie weiß, daß die ein jene Universitäten verirrten Polen rnssificirt in ihr Vater¬
land zurückkehre", und zur Nnssificirnng des Königreichs dann die geschicktesten
Werkzeuge send. Die Erziehung Polnischer Knaben und Jünglinge i" Rußland
ist längst als eins der wichtigsten zu jenem Zwecke führende" Mittel betrachtet,
und daher mit große"! Eifer betrieben worden. Anfangs bemächtigte sich die
Negicnmg der Knabe" der Findelhäuser als eines Eigenthums des Kaisers, und
führte sie in die Militairschnle des inner" Rußlands. Später versuchte man, die
Maßregel auf alle unehelichen Knaben auszudehnen; bald aber beschränkte man
den Anspruch auf diejenige" Knabe", deren Väter unbekannt waren. I" der
Mitte des vorige" Jahrzehc"dö ist auch diese beschränktere Gewaltaiimaßnng, da
sie häufig vo" widerliche" Jammerscenen begleitet war, so ziemlich verschwunden;
dagegen ist der Knabenkauf, der in Deutschland bisweilen für ein Märchen gehalten
worden ist, umfänglicher geworden. Die Zahl der von der Regierung oder ihren
Agenten zur Erziehung in Polen angekauften Knaben ist verschieden angegeben
worden. Die Aemter natürlich schweigen über derartige Dinge, und was dnrch
einzelne schwatzhafte Beamte bekannt wird, erleidet dnrch den Gang von Mund
zu Mund sehr bald Metamorphosen. In eine", Lande, wo die sittliche Bildung
in Folge der Vermengung verschiedener Nationalitäten und der ans frühern Zeiten
herstamme"de" gesellschaftlichen Uebelstände auf einer noch weit niedrigern Stufe
steht, als die wissenschaftliche, konnte es nicht an Leuten fehle", die eine Mandel
Thaler.einem Kinde vorziehen, zumal wenn sie sich in der Noth befanden, die
sich bei den Armen an de" Kinderreichthum heftet, und von der eben das Anerbie¬
ten der Regierung, Geld und Wegnahme der Kinder, befreiete. Uebrigens, wie


in dem Lehrercollcginm findet man Russen und Deutsche, die Nichts weniger als Ge¬
lehrte sind, massenweise. Die Gymnasien sind dnrch diese Leute, welche mir in
einigen lebenden Sprachen und den gewöhnlichsten LebcuSwissenschaften bewandert
sind, zu Realschule» herabgesunken.

Die Verordnung, nach welcher die obersten beiden Klassen aufgehoben wurden,
und welche ein passender Nachtrag zu der 1832 stattgefundenen Aufhebung der
Polnischen Universität war, bezweckte ebenfalls eine höhere wissenschaftliche Bil¬
dung im Königreich Pole» unmöglich zu macheu, und deu Eingebornen nur Ansprüche
auf das niedrigste Amtswcsen z» lasse». Wer eine über der achten Slaatsbnr-
gerklasse stehende Charge bekleiden will, muß nicht blos einen vollständigen
Schnlcnrsus durchgemacht, sondern anch eine Universität besucht habe». So wäre»
die Polen gezwungen, noch el» Gymnasium und eine Universität in Rußland zu
beziehen. Dazu aber entschließt sich nicht leicht der Sprößling einer anständigen
Polnischen Familie; die untern Stände dagegen sind nicht in Besitz der Geld¬
mittel. Man kann nicht behaupte», daß die Regierung geradezu die Ausschlie¬
ßung der Pole» vom Staatswesen beabsichtige, denn sie sucht den Pole» de»
Besuch der Russische» Universität auf verschiedene Weise zu erleichtern. Allem
sie weiß, daß die ein jene Universitäten verirrten Polen rnssificirt in ihr Vater¬
land zurückkehre», und zur Nnssificirnng des Königreichs dann die geschicktesten
Werkzeuge send. Die Erziehung Polnischer Knaben und Jünglinge i» Rußland
ist längst als eins der wichtigsten zu jenem Zwecke führende» Mittel betrachtet,
und daher mit große»! Eifer betrieben worden. Anfangs bemächtigte sich die
Negicnmg der Knabe» der Findelhäuser als eines Eigenthums des Kaisers, und
führte sie in die Militairschnle des inner» Rußlands. Später versuchte man, die
Maßregel auf alle unehelichen Knaben auszudehnen; bald aber beschränkte man
den Anspruch auf diejenige» Knabe», deren Väter unbekannt waren. I» der
Mitte des vorige» Jahrzehc»dö ist auch diese beschränktere Gewaltaiimaßnng, da
sie häufig vo» widerliche» Jammerscenen begleitet war, so ziemlich verschwunden;
dagegen ist der Knabenkauf, der in Deutschland bisweilen für ein Märchen gehalten
worden ist, umfänglicher geworden. Die Zahl der von der Regierung oder ihren
Agenten zur Erziehung in Polen angekauften Knaben ist verschieden angegeben
worden. Die Aemter natürlich schweigen über derartige Dinge, und was dnrch
einzelne schwatzhafte Beamte bekannt wird, erleidet dnrch den Gang von Mund
zu Mund sehr bald Metamorphosen. In eine», Lande, wo die sittliche Bildung
in Folge der Vermengung verschiedener Nationalitäten und der ans frühern Zeiten
herstamme»de» gesellschaftlichen Uebelstände auf einer noch weit niedrigern Stufe
steht, als die wissenschaftliche, konnte es nicht an Leuten fehle», die eine Mandel
Thaler.einem Kinde vorziehen, zumal wenn sie sich in der Noth befanden, die
sich bei den Armen an de» Kinderreichthum heftet, und von der eben das Anerbie¬
ten der Regierung, Geld und Wegnahme der Kinder, befreiete. Uebrigens, wie


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[0102] in dem Lehrercollcginm findet man Russen und Deutsche, die Nichts weniger als Ge¬ lehrte sind, massenweise. Die Gymnasien sind dnrch diese Leute, welche mir in einigen lebenden Sprachen und den gewöhnlichsten LebcuSwissenschaften bewandert sind, zu Realschule» herabgesunken. Die Verordnung, nach welcher die obersten beiden Klassen aufgehoben wurden, und welche ein passender Nachtrag zu der 1832 stattgefundenen Aufhebung der Polnischen Universität war, bezweckte ebenfalls eine höhere wissenschaftliche Bil¬ dung im Königreich Pole» unmöglich zu macheu, und deu Eingebornen nur Ansprüche auf das niedrigste Amtswcsen z» lasse». Wer eine über der achten Slaatsbnr- gerklasse stehende Charge bekleiden will, muß nicht blos einen vollständigen Schnlcnrsus durchgemacht, sondern anch eine Universität besucht habe». So wäre» die Polen gezwungen, noch el» Gymnasium und eine Universität in Rußland zu beziehen. Dazu aber entschließt sich nicht leicht der Sprößling einer anständigen Polnischen Familie; die untern Stände dagegen sind nicht in Besitz der Geld¬ mittel. Man kann nicht behaupte», daß die Regierung geradezu die Ausschlie¬ ßung der Pole» vom Staatswesen beabsichtige, denn sie sucht den Pole» de» Besuch der Russische» Universität auf verschiedene Weise zu erleichtern. Allem sie weiß, daß die ein jene Universitäten verirrten Polen rnssificirt in ihr Vater¬ land zurückkehre», und zur Nnssificirnng des Königreichs dann die geschicktesten Werkzeuge send. Die Erziehung Polnischer Knaben und Jünglinge i» Rußland ist längst als eins der wichtigsten zu jenem Zwecke führende» Mittel betrachtet, und daher mit große»! Eifer betrieben worden. Anfangs bemächtigte sich die Negicnmg der Knabe» der Findelhäuser als eines Eigenthums des Kaisers, und führte sie in die Militairschnle des inner» Rußlands. Später versuchte man, die Maßregel auf alle unehelichen Knaben auszudehnen; bald aber beschränkte man den Anspruch auf diejenige» Knabe», deren Väter unbekannt waren. I» der Mitte des vorige» Jahrzehc»dö ist auch diese beschränktere Gewaltaiimaßnng, da sie häufig vo» widerliche» Jammerscenen begleitet war, so ziemlich verschwunden; dagegen ist der Knabenkauf, der in Deutschland bisweilen für ein Märchen gehalten worden ist, umfänglicher geworden. Die Zahl der von der Regierung oder ihren Agenten zur Erziehung in Polen angekauften Knaben ist verschieden angegeben worden. Die Aemter natürlich schweigen über derartige Dinge, und was dnrch einzelne schwatzhafte Beamte bekannt wird, erleidet dnrch den Gang von Mund zu Mund sehr bald Metamorphosen. In eine», Lande, wo die sittliche Bildung in Folge der Vermengung verschiedener Nationalitäten und der ans frühern Zeiten herstamme»de» gesellschaftlichen Uebelstände auf einer noch weit niedrigern Stufe steht, als die wissenschaftliche, konnte es nicht an Leuten fehle», die eine Mandel Thaler.einem Kinde vorziehen, zumal wenn sie sich in der Noth befanden, die sich bei den Armen an de» Kinderreichthum heftet, und von der eben das Anerbie¬ ten der Regierung, Geld und Wegnahme der Kinder, befreiete. Uebrigens, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/102>, abgerufen am 04.07.2024.