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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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das rückwärts liegende gibt, aber zu einer festeren Basis im Einzelnen kann sie
es nicht bringen. Zwar hat sie in fernster Perspective noch die Resultate der ver¬
gleichenden Grammatik, und diese reichen, so genial wie von Grimm benutzt, voll¬
kommen aus, um den specifischen Unterschied des gewordenen, relativ fertigen deut¬
schen Sprachstaats beim Beginn seiner Kenntniß von jenen urverwandte" Sprachen
deutlich an's Licht zu stellen. Aber für den Trennungs- und selbstständigen Ent¬
wicklungsproceß des Deutschen bis zu jenem Zeitpunkt geben sie auch keine weite¬
ren Aufschlüsse, als höchstens neue Analogien und Hypothesen.

So ist also durch die Natur des Stoffes eine innere Lückenhaftigkeit dieses
Werkes bedingt. Sie wird sich niemals verwischen lassen, denn dazu wären posi¬
tive Anhaltepunkte in Sprachdenkmälern nöthig, die nirgends auszutreiben sind.

Man sieht leicht, daß dies gerade das Feld ist, wo einst die Resultate einer
wahrhaften Sprachphilosophie der Zukunft -- denn was gegenwärtig so geheißen
wird, ist nicht viel besser, als die vorhin erwähnten sogenannten philosophischen
Grammatiker der deutschen Sprache -- ergänzend und verbindend eintreten müssen.
Das verloren gegangene Positive können sie natürlich nicht durch philosophische
Constructionen ersetzen, sie können und müssen aber die Entwicklungsgesetze ange¬
ben, die es beherrscht haben.

Ebenso muß einst jene Lücke in der übrigen Urgeschichte, von der ich ge¬
sprochen habe, einigermaßen durch eine verständige nicht blos nachplappernde An¬
wendung der Resultate der Philosophie, der Culturgeschichte und ihrer einzelnen
Zweige sich ausfüllen lassen. ---

Die Lücke erscheint hier, ganz abgesehn von dem äußerlich größeren Gebiet,
auch innerlich viel störender, als dort in der Urgeschichte der Sprache. Theilweise
deshalb, weil gerade die änßere Ueberlieferung des Materials innerhalb der
Sprache am allerzähesten und bis auf die spätesten Generationen bemerkbar vor
sich geht, während die anderen Ueberlieferungen, aus denen die Kulturgeschichte
ihren Stoff entnehmen würde, leichter einem gänzlichen Untergang preisgege¬
ben sind. Andrerseits ist aber auch über das Gesammtgebiet der ältesten Cultur¬
geschichte noch keine solche belebende Hand gekommen, wie die des Verfassers der
deutschen Sprachgeschichte. Wo es geschehen ist, auf dem Gebiete uuserer nationa¬
len Religion und des Rechts; in der Mythologie und den Rechtsalterthümern
sind die Resultate ganz eminent gewesen. Wer mit dem äußern wissenschaftlichen
Getriebe der Gegenwart bekannt ist, wird sich des ergötzlichen Erstaunens erinnern,
das beide Bücher in manchen eigentlich gelehrten Kreisen Hervorriesen. Man hatte
gar nicht sür möglich gehalten, daß auf beiden Gebieten, jedoch besonders in der
Mythologie über einige vage Hypothesen und unvermittelte Namen hinauszukom¬
men wäre, und siehe da, plötzlich stand ein in den Hauptzügen deutliches im Ein¬
zelnen freilich oft sehr verstümmeltes Bild des deutschen Heidenthums und des
ältesten Rechtslebens da. Angegriffen und negirt konnte es nicht werden, dazu


das rückwärts liegende gibt, aber zu einer festeren Basis im Einzelnen kann sie
es nicht bringen. Zwar hat sie in fernster Perspective noch die Resultate der ver¬
gleichenden Grammatik, und diese reichen, so genial wie von Grimm benutzt, voll¬
kommen aus, um den specifischen Unterschied des gewordenen, relativ fertigen deut¬
schen Sprachstaats beim Beginn seiner Kenntniß von jenen urverwandte» Sprachen
deutlich an's Licht zu stellen. Aber für den Trennungs- und selbstständigen Ent¬
wicklungsproceß des Deutschen bis zu jenem Zeitpunkt geben sie auch keine weite¬
ren Aufschlüsse, als höchstens neue Analogien und Hypothesen.

So ist also durch die Natur des Stoffes eine innere Lückenhaftigkeit dieses
Werkes bedingt. Sie wird sich niemals verwischen lassen, denn dazu wären posi¬
tive Anhaltepunkte in Sprachdenkmälern nöthig, die nirgends auszutreiben sind.

Man sieht leicht, daß dies gerade das Feld ist, wo einst die Resultate einer
wahrhaften Sprachphilosophie der Zukunft — denn was gegenwärtig so geheißen
wird, ist nicht viel besser, als die vorhin erwähnten sogenannten philosophischen
Grammatiker der deutschen Sprache — ergänzend und verbindend eintreten müssen.
Das verloren gegangene Positive können sie natürlich nicht durch philosophische
Constructionen ersetzen, sie können und müssen aber die Entwicklungsgesetze ange¬
ben, die es beherrscht haben.

Ebenso muß einst jene Lücke in der übrigen Urgeschichte, von der ich ge¬
sprochen habe, einigermaßen durch eine verständige nicht blos nachplappernde An¬
wendung der Resultate der Philosophie, der Culturgeschichte und ihrer einzelnen
Zweige sich ausfüllen lassen. -—

Die Lücke erscheint hier, ganz abgesehn von dem äußerlich größeren Gebiet,
auch innerlich viel störender, als dort in der Urgeschichte der Sprache. Theilweise
deshalb, weil gerade die änßere Ueberlieferung des Materials innerhalb der
Sprache am allerzähesten und bis auf die spätesten Generationen bemerkbar vor
sich geht, während die anderen Ueberlieferungen, aus denen die Kulturgeschichte
ihren Stoff entnehmen würde, leichter einem gänzlichen Untergang preisgege¬
ben sind. Andrerseits ist aber auch über das Gesammtgebiet der ältesten Cultur¬
geschichte noch keine solche belebende Hand gekommen, wie die des Verfassers der
deutschen Sprachgeschichte. Wo es geschehen ist, auf dem Gebiete uuserer nationa¬
len Religion und des Rechts; in der Mythologie und den Rechtsalterthümern
sind die Resultate ganz eminent gewesen. Wer mit dem äußern wissenschaftlichen
Getriebe der Gegenwart bekannt ist, wird sich des ergötzlichen Erstaunens erinnern,
das beide Bücher in manchen eigentlich gelehrten Kreisen Hervorriesen. Man hatte
gar nicht sür möglich gehalten, daß auf beiden Gebieten, jedoch besonders in der
Mythologie über einige vage Hypothesen und unvermittelte Namen hinauszukom¬
men wäre, und siehe da, plötzlich stand ein in den Hauptzügen deutliches im Ein¬
zelnen freilich oft sehr verstümmeltes Bild des deutschen Heidenthums und des
ältesten Rechtslebens da. Angegriffen und negirt konnte es nicht werden, dazu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/62>, abgerufen am 24.07.2024.