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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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denkmäler beginnen, also etwa um den Anfang unserer Zeitrechnung stehen alle
jene gegenwärtig oft zu bedeutender selbstständiger Entwickelung gelangten Sprach¬
zweige einander noch so nahe, daß sie sich aus den ersten Blick als Zweige eines
und desselben Baumes zu erkennen geben. Man kann also im Hinblick darauf
auch in der Gegenwart von einer deutschen Sprache reden, und noch mehr, wenn
man, allein jene ältere Zeit im Auge hat.

Aber diese deutsche Sprache bekundet sich auch in einem gewissen Verwandt-
schastsverlMniß zu anderen ihr entweder räumlich benachbarten, wie das Latei¬
nische und Slavische, oder weit entlegenen, wie das Griechische und noch mehr
das Sanscrit. Seitdem Wilhelm von Humboldt mittelst genialer Apercus und
Bopp durch soliden deutschen Fleiß und gründlichen Scharfsinn dies Factum nicht
blos behauptet, sondern auch an einzelnen Spracherscheinungen, in Flexionen und
Wortvorrath nachgewiesen haben, kann eine wahrhaft wissenschaftliche Betrachtung
des Entwickelungsganges der deutschen Sprache nur damit beginnen, daß zuerst
ihre Stellung zu den urverwandten im Einzelnen nachgewiesen wird. Dadurch
allein ist die Möglichkeit gegeben, zu einer richtigen Vorstellung über das der
deutschen Sprachentwickelung allein angehörige, das individuell-deutsche Element,
und das einem größeren Kreise gemeinsame, das allgemeinere kulturhistorische Ele¬
ment darin, zu gelangen.

Davon geht auch die "Geschichte der deutschen Sprache" ans. Mit eiuer
umsichtigen und liebevollen Kenntniß auch der dürftigsten und entlegensten Trüm¬
mer aus den ältesten Zeiten unserer Sprache, mögen sie nun schon seit Jahrhun¬
derten ganz zerstört sein oder von einer späteren Vegetation überwuchert, unkennt¬
lich und unerkannt sich oft bis auf den heutigen Tag erhalten haben, die jeden
Leser in Staunen setzen muß, wenn er sie auch schon aus den früheren Arbeiten
Jacob Grimm's gewöhnt ist, behandelt ein großer Theil des Buches, ungefähr
ein Drittel seiner tausend Seiten, diese höchst wichtige Frage. --

In der deutschen Grammatik hatte sich der Autor mit richtigem Jnstinct davon
ferne gehalten. Damals, wo er den ersten Anlauf zu einer Sichtung und Orga¬
nisation des ganzen Sprachmaterials machte, war eine möglichste Beschränkung
der Aufgabe selbst aus Kosten ihrer inneren und äußeren Vollständigkeit, jedenfalls
förderlich. Ohnehin gab es zu jener Zeit noch kaum die ersten Anfänge einer
vergleichenden Grammatik in dem Sinne, wie sie seitdem von Bopp begründet
worden ist, d. h. einer solchen, die sich zu einer in der Zukunft erst möglichen
ungefähr so verhält, wie die vergleichende Anatomie zu einer echten Physiologie.

Die andere Hauptaufgabe, welcher die Hauptmasse des Buches zugehört, ist
aber, die der deutschen Sprachentwicklung eigenthümlichen Lebensgesetze aufzufinden
und systematisch zu entwickeln. Rein zufällig, d. h. uicht aus dem Grundgedanken
der ganzen Aufgabe hervorgehend, ist dagegen die Grenzlinie, welche er seiner
Forschung innerlich und äußerlich gesteckt hat. Erzieht nämlich nicht das ganze uner-


denkmäler beginnen, also etwa um den Anfang unserer Zeitrechnung stehen alle
jene gegenwärtig oft zu bedeutender selbstständiger Entwickelung gelangten Sprach¬
zweige einander noch so nahe, daß sie sich aus den ersten Blick als Zweige eines
und desselben Baumes zu erkennen geben. Man kann also im Hinblick darauf
auch in der Gegenwart von einer deutschen Sprache reden, und noch mehr, wenn
man, allein jene ältere Zeit im Auge hat.

Aber diese deutsche Sprache bekundet sich auch in einem gewissen Verwandt-
schastsverlMniß zu anderen ihr entweder räumlich benachbarten, wie das Latei¬
nische und Slavische, oder weit entlegenen, wie das Griechische und noch mehr
das Sanscrit. Seitdem Wilhelm von Humboldt mittelst genialer Apercus und
Bopp durch soliden deutschen Fleiß und gründlichen Scharfsinn dies Factum nicht
blos behauptet, sondern auch an einzelnen Spracherscheinungen, in Flexionen und
Wortvorrath nachgewiesen haben, kann eine wahrhaft wissenschaftliche Betrachtung
des Entwickelungsganges der deutschen Sprache nur damit beginnen, daß zuerst
ihre Stellung zu den urverwandten im Einzelnen nachgewiesen wird. Dadurch
allein ist die Möglichkeit gegeben, zu einer richtigen Vorstellung über das der
deutschen Sprachentwickelung allein angehörige, das individuell-deutsche Element,
und das einem größeren Kreise gemeinsame, das allgemeinere kulturhistorische Ele¬
ment darin, zu gelangen.

Davon geht auch die „Geschichte der deutschen Sprache" ans. Mit eiuer
umsichtigen und liebevollen Kenntniß auch der dürftigsten und entlegensten Trüm¬
mer aus den ältesten Zeiten unserer Sprache, mögen sie nun schon seit Jahrhun¬
derten ganz zerstört sein oder von einer späteren Vegetation überwuchert, unkennt¬
lich und unerkannt sich oft bis auf den heutigen Tag erhalten haben, die jeden
Leser in Staunen setzen muß, wenn er sie auch schon aus den früheren Arbeiten
Jacob Grimm's gewöhnt ist, behandelt ein großer Theil des Buches, ungefähr
ein Drittel seiner tausend Seiten, diese höchst wichtige Frage. —

In der deutschen Grammatik hatte sich der Autor mit richtigem Jnstinct davon
ferne gehalten. Damals, wo er den ersten Anlauf zu einer Sichtung und Orga¬
nisation des ganzen Sprachmaterials machte, war eine möglichste Beschränkung
der Aufgabe selbst aus Kosten ihrer inneren und äußeren Vollständigkeit, jedenfalls
förderlich. Ohnehin gab es zu jener Zeit noch kaum die ersten Anfänge einer
vergleichenden Grammatik in dem Sinne, wie sie seitdem von Bopp begründet
worden ist, d. h. einer solchen, die sich zu einer in der Zukunft erst möglichen
ungefähr so verhält, wie die vergleichende Anatomie zu einer echten Physiologie.

Die andere Hauptaufgabe, welcher die Hauptmasse des Buches zugehört, ist
aber, die der deutschen Sprachentwicklung eigenthümlichen Lebensgesetze aufzufinden
und systematisch zu entwickeln. Rein zufällig, d. h. uicht aus dem Grundgedanken
der ganzen Aufgabe hervorgehend, ist dagegen die Grenzlinie, welche er seiner
Forschung innerlich und äußerlich gesteckt hat. Erzieht nämlich nicht das ganze uner-


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[0060] denkmäler beginnen, also etwa um den Anfang unserer Zeitrechnung stehen alle jene gegenwärtig oft zu bedeutender selbstständiger Entwickelung gelangten Sprach¬ zweige einander noch so nahe, daß sie sich aus den ersten Blick als Zweige eines und desselben Baumes zu erkennen geben. Man kann also im Hinblick darauf auch in der Gegenwart von einer deutschen Sprache reden, und noch mehr, wenn man, allein jene ältere Zeit im Auge hat. Aber diese deutsche Sprache bekundet sich auch in einem gewissen Verwandt- schastsverlMniß zu anderen ihr entweder räumlich benachbarten, wie das Latei¬ nische und Slavische, oder weit entlegenen, wie das Griechische und noch mehr das Sanscrit. Seitdem Wilhelm von Humboldt mittelst genialer Apercus und Bopp durch soliden deutschen Fleiß und gründlichen Scharfsinn dies Factum nicht blos behauptet, sondern auch an einzelnen Spracherscheinungen, in Flexionen und Wortvorrath nachgewiesen haben, kann eine wahrhaft wissenschaftliche Betrachtung des Entwickelungsganges der deutschen Sprache nur damit beginnen, daß zuerst ihre Stellung zu den urverwandten im Einzelnen nachgewiesen wird. Dadurch allein ist die Möglichkeit gegeben, zu einer richtigen Vorstellung über das der deutschen Sprachentwickelung allein angehörige, das individuell-deutsche Element, und das einem größeren Kreise gemeinsame, das allgemeinere kulturhistorische Ele¬ ment darin, zu gelangen. Davon geht auch die „Geschichte der deutschen Sprache" ans. Mit eiuer umsichtigen und liebevollen Kenntniß auch der dürftigsten und entlegensten Trüm¬ mer aus den ältesten Zeiten unserer Sprache, mögen sie nun schon seit Jahrhun¬ derten ganz zerstört sein oder von einer späteren Vegetation überwuchert, unkennt¬ lich und unerkannt sich oft bis auf den heutigen Tag erhalten haben, die jeden Leser in Staunen setzen muß, wenn er sie auch schon aus den früheren Arbeiten Jacob Grimm's gewöhnt ist, behandelt ein großer Theil des Buches, ungefähr ein Drittel seiner tausend Seiten, diese höchst wichtige Frage. — In der deutschen Grammatik hatte sich der Autor mit richtigem Jnstinct davon ferne gehalten. Damals, wo er den ersten Anlauf zu einer Sichtung und Orga¬ nisation des ganzen Sprachmaterials machte, war eine möglichste Beschränkung der Aufgabe selbst aus Kosten ihrer inneren und äußeren Vollständigkeit, jedenfalls förderlich. Ohnehin gab es zu jener Zeit noch kaum die ersten Anfänge einer vergleichenden Grammatik in dem Sinne, wie sie seitdem von Bopp begründet worden ist, d. h. einer solchen, die sich zu einer in der Zukunft erst möglichen ungefähr so verhält, wie die vergleichende Anatomie zu einer echten Physiologie. Die andere Hauptaufgabe, welcher die Hauptmasse des Buches zugehört, ist aber, die der deutschen Sprachentwicklung eigenthümlichen Lebensgesetze aufzufinden und systematisch zu entwickeln. Rein zufällig, d. h. uicht aus dem Grundgedanken der ganzen Aufgabe hervorgehend, ist dagegen die Grenzlinie, welche er seiner Forschung innerlich und äußerlich gesteckt hat. Erzieht nämlich nicht das ganze uner-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/60>, abgerufen am 24.07.2024.