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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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setzt seinen Hauptreiz. Vor uns liegt sein "Jakob von Artevelde"*), welcher
in einer hiesigen Buchhandlung erschienen ist, deren Verdienst in Verbreitung der
stammverwandten Literatur mit Dank anerkannt werden muß. Es fehlt diesem
Roman sast an Allem, was die deutsche Kritik lobend hervorheben könnte. Wir
können kein Interesse an den Helden nehmen, denn ihre Jdealisirung'ist dürstig.
Ueberall entweder weißes Licht, oder schwarzer Schatten, die Tugendhaften sind
Nhetorikcr, die Bösewichter sind Intriguanten, nach der alten Schablone. Der
Dichter versteht es nicht, die kleinen epischen Züge, durch welche die Figuren uus
anschaulich und interessant werden, zu schildern, weil er sie nicht deutlich genug
empfindet; wo er es versucht, ist er ungeschickt. Auch der Ton des Romans, die
breite, rhetorische und doch an Detail arme Manier der Erzählung haben wir in
Deutschland längst überwunden. Nur eines hat der Flamänder voraus, was aller-
dings seiue Kunst noch nicht erhöht, er ist ein moderner Patriot. Es ist bei ihm
fast immer das Treiben einer Commune, der enge Kreis einer tüchtigen Genos¬
senschaft, aus welcher sich einige bedeutende Persönlichkeiten erheben, und die In¬
teressen, um welche es sich handelt, sind einfach und leicht verständlich, weil sie
großentheils noch jetzt bestehen. Leider weiß Conscicnce den guten Grund, welchen
er hat, uicht zu benutzen, nud mit demMoland von Berlin unsers Willibald Alexis
ist sein Jakob Artevelde gar nicht zu vergleichen.

Bedeutender ist er in seinen kleinen Novellen, wo er genrehaft Zustände des
Volkes aus der Gegenwart schildert. Sind es doch auch diese Arbeiten, welche
ihn in Deutschland bekannt gemacht haben. Nur muß man auch hier nicht zu
viel erwarten. Alle seine Figuren sind in eine Sentimentalität getaucht, die sie
künstlerisch unwahr macht und ein dauerndes Behagen nicht aufkommen läßt. Der
Rekrut*) ist eine solche flaemische Dorfgeschichte. Viel Rührung und Weichher¬
zigkeit, eine bedeutsame Traumerscheinung der Mutter Gottes, und gute Menschen,
welche für ihre Güte vom Himmel belohnt werden. Aber trotzdem ist die Erzäh¬
lung das Product einer Dichterkcat, keiner großen, umfangreichen, sondern
einer liebenswürdige", kleinen, warmherzigen Natur, welche sich Freunde erwerben
wird auch unter den Ungläubigen, aber schwerlich geeignet ist, der schönen Litera¬
tur einer neuen Sprache Halt, Charakter und Richtung zu geben.






*) Der Rekrut, Aus dem Vlämischen übersetzt von Philipp Gigot. Mit -t Illustrationen
von Dujardin. Brüssel. Leipzig, Kießling und Comp, 1850.
**) Jacob von Artevelde. Historischer Roman. Unter Mitwirkung des Verfassers, deutsch
von O, S. W, Wolff. Leipzig, Carl B. Lorck. 1349.
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setzt seinen Hauptreiz. Vor uns liegt sein „Jakob von Artevelde"*), welcher
in einer hiesigen Buchhandlung erschienen ist, deren Verdienst in Verbreitung der
stammverwandten Literatur mit Dank anerkannt werden muß. Es fehlt diesem
Roman sast an Allem, was die deutsche Kritik lobend hervorheben könnte. Wir
können kein Interesse an den Helden nehmen, denn ihre Jdealisirung'ist dürstig.
Ueberall entweder weißes Licht, oder schwarzer Schatten, die Tugendhaften sind
Nhetorikcr, die Bösewichter sind Intriguanten, nach der alten Schablone. Der
Dichter versteht es nicht, die kleinen epischen Züge, durch welche die Figuren uus
anschaulich und interessant werden, zu schildern, weil er sie nicht deutlich genug
empfindet; wo er es versucht, ist er ungeschickt. Auch der Ton des Romans, die
breite, rhetorische und doch an Detail arme Manier der Erzählung haben wir in
Deutschland längst überwunden. Nur eines hat der Flamänder voraus, was aller-
dings seiue Kunst noch nicht erhöht, er ist ein moderner Patriot. Es ist bei ihm
fast immer das Treiben einer Commune, der enge Kreis einer tüchtigen Genos¬
senschaft, aus welcher sich einige bedeutende Persönlichkeiten erheben, und die In¬
teressen, um welche es sich handelt, sind einfach und leicht verständlich, weil sie
großentheils noch jetzt bestehen. Leider weiß Conscicnce den guten Grund, welchen
er hat, uicht zu benutzen, nud mit demMoland von Berlin unsers Willibald Alexis
ist sein Jakob Artevelde gar nicht zu vergleichen.

Bedeutender ist er in seinen kleinen Novellen, wo er genrehaft Zustände des
Volkes aus der Gegenwart schildert. Sind es doch auch diese Arbeiten, welche
ihn in Deutschland bekannt gemacht haben. Nur muß man auch hier nicht zu
viel erwarten. Alle seine Figuren sind in eine Sentimentalität getaucht, die sie
künstlerisch unwahr macht und ein dauerndes Behagen nicht aufkommen läßt. Der
Rekrut*) ist eine solche flaemische Dorfgeschichte. Viel Rührung und Weichher¬
zigkeit, eine bedeutsame Traumerscheinung der Mutter Gottes, und gute Menschen,
welche für ihre Güte vom Himmel belohnt werden. Aber trotzdem ist die Erzäh¬
lung das Product einer Dichterkcat, keiner großen, umfangreichen, sondern
einer liebenswürdige», kleinen, warmherzigen Natur, welche sich Freunde erwerben
wird auch unter den Ungläubigen, aber schwerlich geeignet ist, der schönen Litera¬
tur einer neuen Sprache Halt, Charakter und Richtung zu geben.






*) Der Rekrut, Aus dem Vlämischen übersetzt von Philipp Gigot. Mit -t Illustrationen
von Dujardin. Brüssel. Leipzig, Kießling und Comp, 1850.
**) Jacob von Artevelde. Historischer Roman. Unter Mitwirkung des Verfassers, deutsch
von O, S. W, Wolff. Leipzig, Carl B. Lorck. 1349.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/395>, abgerufen am 24.07.2024.