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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Tishe so wenig als Marion de Lorme lassen sich mit einem Produkt der äl¬
teren französischen Literatur vergleichen, mit der Geschichte der Manon Lescaut
und des Chevalier de Grieux vom Abbe Prevost. Hier ist die Frage klar hinge¬
stellt: Manon sündigt nicht aus Noth, sondern aus Genußsucht; sie ist feil und
doch liebenswürdig, und doch auf eine Weise geliebt, wie kein tugendhaftes Weib
es sein konnte. Auf dies merkwürdige Buch, dessen Conception nur einem Fran¬
zosen möglich war, kommeu wir noch einmal zurück. -- Es ist überflüssig, ans die
übrigen Figuren Victor Hugo's, in denen der nämliche Contrast sich ausdrückt,
zurückzugehen; auf Esmeralda und ihre Affenliebe zu dem schmucken Dragoner-
Capitän; aus den Priester Claude Frollo, den die Entbehrung in seiner später
ausbrechenden Brunst halb verrückt macht u. s. w. -- Merkwürdiger ist die andere
Seite seiner Poesie; das Streben, diesem grob materiellen Wesen gegenüber etwas
recht Seraphisches, platonisch Unsinnliches, oder in der Sinnlichkeit Keusches auf¬
zustellen, und dem Einen durch das Andere Folie zu geben. Das spielt symbo¬
lisch in einander, ein dramatisches Leben aber kann daraus nicht hervorgehen.

Das vorletzte Stück von Victor Hugo, Ruy Blas (l839^ ist vielleicht die
wunderlichste Ausgeburt dieser Poesie des tragikomischen Contrastes. -- Ein Mi¬
nister, Salluste, wird von der Königin beleidigt und will sich rächen. Sie soll
sich in seinen Lakaien Ruy Blas verlieben und mit demselben compromittiren.
Zu diesem Zweck gibt er ihn für seinen Vetter aus und bringt ihn in den Dienst
der Königin. Was er vorausgesehen, geschieht; schon war ihm vorgearbeitet, denn
Ruy Blas liebte bereits die Königin und stand mit ihr in einem geheimnißvollen
Briefwechsel. Er wird Mi, ihter, der König ist ein Crctin und setzt ihm keinen
Widerstand entgegen, er reformirt den ganzen Staat, treibt die Unterdrücker des
Volks aus und regiert auf das Trefflichste; wie er zu einer Kenntniß der Staats¬
geschäfte kommt, wie er sich nach der Hofmanier zu benehmen gelernt hat, weiß
Gott allein! Die Königin betet ihn an, da kommt eines schönen Morgens Don
Salluste und sagt: Das ist mein Lakai! Ich kaun ihn schlagen, schimpfen, weg¬
werfen, wie ich will, und mit diesem hast du dich compromittirt. Das setzt
endlich Ruy Blas außer Fassung: Ah! sagt er:


Von" I'osvü OlUlAZM-, PI!Ula j" 8un I"! lüNVÜ,
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, Er tödtet ihn, und dann sich selbst, um die unfreiwillige Schuld abzubüßen.
-- Das ist alles wieder eitel Symbol. Was ist Ruy Blas eigentlich? Der Dich-
ter sagt es selbst: in der Verderbnis) der herrschende" Klassen das Volk! Etwas
Großes, Finsteres, Unbekanntes! ^Hochstrcbend, auf dem Rücken die Zeichen der
Knechtschaft, im Herzen die Vorahnungen des' Genius! Die geniale Leidenschaft,
durch die Gesellschaft unterdrückt, und sich um so gewaltiger ausschwingeud, als


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Tishe so wenig als Marion de Lorme lassen sich mit einem Produkt der äl¬
teren französischen Literatur vergleichen, mit der Geschichte der Manon Lescaut
und des Chevalier de Grieux vom Abbe Prevost. Hier ist die Frage klar hinge¬
stellt: Manon sündigt nicht aus Noth, sondern aus Genußsucht; sie ist feil und
doch liebenswürdig, und doch auf eine Weise geliebt, wie kein tugendhaftes Weib
es sein konnte. Auf dies merkwürdige Buch, dessen Conception nur einem Fran¬
zosen möglich war, kommeu wir noch einmal zurück. — Es ist überflüssig, ans die
übrigen Figuren Victor Hugo's, in denen der nämliche Contrast sich ausdrückt,
zurückzugehen; auf Esmeralda und ihre Affenliebe zu dem schmucken Dragoner-
Capitän; aus den Priester Claude Frollo, den die Entbehrung in seiner später
ausbrechenden Brunst halb verrückt macht u. s. w. — Merkwürdiger ist die andere
Seite seiner Poesie; das Streben, diesem grob materiellen Wesen gegenüber etwas
recht Seraphisches, platonisch Unsinnliches, oder in der Sinnlichkeit Keusches auf¬
zustellen, und dem Einen durch das Andere Folie zu geben. Das spielt symbo¬
lisch in einander, ein dramatisches Leben aber kann daraus nicht hervorgehen.

Das vorletzte Stück von Victor Hugo, Ruy Blas (l839^ ist vielleicht die
wunderlichste Ausgeburt dieser Poesie des tragikomischen Contrastes. — Ein Mi¬
nister, Salluste, wird von der Königin beleidigt und will sich rächen. Sie soll
sich in seinen Lakaien Ruy Blas verlieben und mit demselben compromittiren.
Zu diesem Zweck gibt er ihn für seinen Vetter aus und bringt ihn in den Dienst
der Königin. Was er vorausgesehen, geschieht; schon war ihm vorgearbeitet, denn
Ruy Blas liebte bereits die Königin und stand mit ihr in einem geheimnißvollen
Briefwechsel. Er wird Mi, ihter, der König ist ein Crctin und setzt ihm keinen
Widerstand entgegen, er reformirt den ganzen Staat, treibt die Unterdrücker des
Volks aus und regiert auf das Trefflichste; wie er zu einer Kenntniß der Staats¬
geschäfte kommt, wie er sich nach der Hofmanier zu benehmen gelernt hat, weiß
Gott allein! Die Königin betet ihn an, da kommt eines schönen Morgens Don
Salluste und sagt: Das ist mein Lakai! Ich kaun ihn schlagen, schimpfen, weg¬
werfen, wie ich will, und mit diesem hast du dich compromittirt. Das setzt
endlich Ruy Blas außer Fassung: Ah! sagt er:


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, Er tödtet ihn, und dann sich selbst, um die unfreiwillige Schuld abzubüßen.
— Das ist alles wieder eitel Symbol. Was ist Ruy Blas eigentlich? Der Dich-
ter sagt es selbst: in der Verderbnis) der herrschende» Klassen das Volk! Etwas
Großes, Finsteres, Unbekanntes! ^Hochstrcbend, auf dem Rücken die Zeichen der
Knechtschaft, im Herzen die Vorahnungen des' Genius! Die geniale Leidenschaft,
durch die Gesellschaft unterdrückt, und sich um so gewaltiger ausschwingeud, als


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[0299] Tishe so wenig als Marion de Lorme lassen sich mit einem Produkt der äl¬ teren französischen Literatur vergleichen, mit der Geschichte der Manon Lescaut und des Chevalier de Grieux vom Abbe Prevost. Hier ist die Frage klar hinge¬ stellt: Manon sündigt nicht aus Noth, sondern aus Genußsucht; sie ist feil und doch liebenswürdig, und doch auf eine Weise geliebt, wie kein tugendhaftes Weib es sein konnte. Auf dies merkwürdige Buch, dessen Conception nur einem Fran¬ zosen möglich war, kommeu wir noch einmal zurück. — Es ist überflüssig, ans die übrigen Figuren Victor Hugo's, in denen der nämliche Contrast sich ausdrückt, zurückzugehen; auf Esmeralda und ihre Affenliebe zu dem schmucken Dragoner- Capitän; aus den Priester Claude Frollo, den die Entbehrung in seiner später ausbrechenden Brunst halb verrückt macht u. s. w. — Merkwürdiger ist die andere Seite seiner Poesie; das Streben, diesem grob materiellen Wesen gegenüber etwas recht Seraphisches, platonisch Unsinnliches, oder in der Sinnlichkeit Keusches auf¬ zustellen, und dem Einen durch das Andere Folie zu geben. Das spielt symbo¬ lisch in einander, ein dramatisches Leben aber kann daraus nicht hervorgehen. Das vorletzte Stück von Victor Hugo, Ruy Blas (l839^ ist vielleicht die wunderlichste Ausgeburt dieser Poesie des tragikomischen Contrastes. — Ein Mi¬ nister, Salluste, wird von der Königin beleidigt und will sich rächen. Sie soll sich in seinen Lakaien Ruy Blas verlieben und mit demselben compromittiren. Zu diesem Zweck gibt er ihn für seinen Vetter aus und bringt ihn in den Dienst der Königin. Was er vorausgesehen, geschieht; schon war ihm vorgearbeitet, denn Ruy Blas liebte bereits die Königin und stand mit ihr in einem geheimnißvollen Briefwechsel. Er wird Mi, ihter, der König ist ein Crctin und setzt ihm keinen Widerstand entgegen, er reformirt den ganzen Staat, treibt die Unterdrücker des Volks aus und regiert auf das Trefflichste; wie er zu einer Kenntniß der Staats¬ geschäfte kommt, wie er sich nach der Hofmanier zu benehmen gelernt hat, weiß Gott allein! Die Königin betet ihn an, da kommt eines schönen Morgens Don Salluste und sagt: Das ist mein Lakai! Ich kaun ihn schlagen, schimpfen, weg¬ werfen, wie ich will, und mit diesem hast du dich compromittirt. Das setzt endlich Ruy Blas außer Fassung: Ah! sagt er: Von« I'osvü OlUlAZM-, PI!Ula j« 8un I»! lüNVÜ, ?Med' An IwlNMö it'l'«ki>it, Vt«im>!ni, V0U8 in'vloimo?! von« vo»s lig'in'l'/ Pie je VMI8 vel'i'ni t'all'L rivil «lire! , Er tödtet ihn, und dann sich selbst, um die unfreiwillige Schuld abzubüßen. — Das ist alles wieder eitel Symbol. Was ist Ruy Blas eigentlich? Der Dich- ter sagt es selbst: in der Verderbnis) der herrschende» Klassen das Volk! Etwas Großes, Finsteres, Unbekanntes! ^Hochstrcbend, auf dem Rücken die Zeichen der Knechtschaft, im Herzen die Vorahnungen des' Genius! Die geniale Leidenschaft, durch die Gesellschaft unterdrückt, und sich um so gewaltiger ausschwingeud, als 37*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/299>, abgerufen am 24.07.2024.