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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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geräth nur'in einen Wuthausbruch, Ver freilich geeignet ist, die in seiner Nähe
befindlichen Personen in Entsetzen zu jagen, wie jeder unerwartete Krampfanfall,
aber keineswegs, das unbetheiligte Publikum hinzureißen. Es macht im Gegen¬
theil einen possenhaften Eindruck, wenn der zwerghafte, bucklige Hanswurst sich
mit plebejischen Hochmuth auf den königlichen Sessel wirft, und dort "Gericht
hält," wenn er einen Mörder von Professton dingt, den König abzuthun, wenn
er sich von ihm den Leichnam im Sack ausliefern läßt, in halb wahnsinniger Lust
darauf herumspringt, dann plötzlich findet, daß er nicht den Leichnam des Königs,
sondern den seiner Tochter beschimpft habe, und nun in grotesken Geberden seine
Verzweiflung ausdrückt. Der Schmerz wie der Zorn rendre und erschüttert uns
nur auf einem an sich edlen Gesicht, und in der Mischung des Fratzenhaften und
des Schauerlichen überwiegt das erstere.

Lucrvce Borgia (aufgeführt Februar 1833) ist Nichts als das Gegenbild
zu Triboulet, sowohl der Charakteranlage als der Fabel nach. Das verruchte
Weib hat Blutschande getrieben mit Vater und Bruder, sie hat mit Gift, Dolch
und Strick unter den Edlen Italiens gewüthet, sie ist gleichmäßig ein. Gegenstand
der Furcht, des Hasses, des Abscheus und der Verachtung, Aber sie hat einen
Sohn, gleichfalls die Frucht der Blutschande, der sie nicht kennt, und in dem
Herzen dieses Sohnes sucht sie ein Asyl sür ihr besseres Selbst. "Was würdest
dn dazu sagen", fragt sie einen ihrer Helfershelfer, "wenn es ein edles und reines
Herz gäbe, wenn mir armen Frau, gehaßt, verachtet, verflucht von deu Menschen,
vom Himmel verdammt, elend in meiner Allmacht, wenn mir in meiner Noth,
in der die Seele in schmerzlichem Todeskampfe ringt, Nichts bliebe, als die eine
Idee, die eine Hoffnung, in diesem so stolzen und so reinen Herzen vor meinem
Tode einen Platz zu gewinnen?" Das ist ein Schwangerschaftsgelüst, eine Caprice
der Blastrtheit; wie in diesem zerstörten Familienwesen ein Gefühl der Pietät auf-
keimen soll, begreift kein Mensch. Auch hat dieses Gefühl keine Macht, sie im
Uebrigen zu veredeln; sie intriguirt, hcHt, vergiftet, uach wie vor. Und so kömmt
es endlich, daß sie ihren eignen Liebling vergiften muß, und daß sie endlich von
ihm verflucht und getödtet wird.

Wenn aber in der sittlichen Anlage die Lucretia kein Fortschritt gegen Tribon-
let ist, so muß ich doch die Ausführung bedeutend vorziehn, Einmal ist dies
Stück in Prosa geschrieben, und das Geplauder dieser verliebten Hyäne erhält
dadurch in der That eine gewisse Originalität. Später hat sich Victor Hugo
darin uoch vervollkommnet; seine Königin Marie und seine Courtisane Tishe sind
zwar noch viel gemeiner, aber auch viel origineller als Lucretia. Sodann ist die
theatralische Anordnung mit großem Geschick ausgeführt, und zu der Donizettischen
Musik nimmt sich die Handlung wunderlich genug aus.

Aber mit der moralischen Wirkung ist es nichts. Die Moral hinkt nach,
eigentlich ist das krankhafte Gelüst nach pikanten Greueln, die durch die Naivität,


geräth nur'in einen Wuthausbruch, Ver freilich geeignet ist, die in seiner Nähe
befindlichen Personen in Entsetzen zu jagen, wie jeder unerwartete Krampfanfall,
aber keineswegs, das unbetheiligte Publikum hinzureißen. Es macht im Gegen¬
theil einen possenhaften Eindruck, wenn der zwerghafte, bucklige Hanswurst sich
mit plebejischen Hochmuth auf den königlichen Sessel wirft, und dort „Gericht
hält," wenn er einen Mörder von Professton dingt, den König abzuthun, wenn
er sich von ihm den Leichnam im Sack ausliefern läßt, in halb wahnsinniger Lust
darauf herumspringt, dann plötzlich findet, daß er nicht den Leichnam des Königs,
sondern den seiner Tochter beschimpft habe, und nun in grotesken Geberden seine
Verzweiflung ausdrückt. Der Schmerz wie der Zorn rendre und erschüttert uns
nur auf einem an sich edlen Gesicht, und in der Mischung des Fratzenhaften und
des Schauerlichen überwiegt das erstere.

Lucrvce Borgia (aufgeführt Februar 1833) ist Nichts als das Gegenbild
zu Triboulet, sowohl der Charakteranlage als der Fabel nach. Das verruchte
Weib hat Blutschande getrieben mit Vater und Bruder, sie hat mit Gift, Dolch
und Strick unter den Edlen Italiens gewüthet, sie ist gleichmäßig ein. Gegenstand
der Furcht, des Hasses, des Abscheus und der Verachtung, Aber sie hat einen
Sohn, gleichfalls die Frucht der Blutschande, der sie nicht kennt, und in dem
Herzen dieses Sohnes sucht sie ein Asyl sür ihr besseres Selbst. „Was würdest
dn dazu sagen", fragt sie einen ihrer Helfershelfer, „wenn es ein edles und reines
Herz gäbe, wenn mir armen Frau, gehaßt, verachtet, verflucht von deu Menschen,
vom Himmel verdammt, elend in meiner Allmacht, wenn mir in meiner Noth,
in der die Seele in schmerzlichem Todeskampfe ringt, Nichts bliebe, als die eine
Idee, die eine Hoffnung, in diesem so stolzen und so reinen Herzen vor meinem
Tode einen Platz zu gewinnen?" Das ist ein Schwangerschaftsgelüst, eine Caprice
der Blastrtheit; wie in diesem zerstörten Familienwesen ein Gefühl der Pietät auf-
keimen soll, begreift kein Mensch. Auch hat dieses Gefühl keine Macht, sie im
Uebrigen zu veredeln; sie intriguirt, hcHt, vergiftet, uach wie vor. Und so kömmt
es endlich, daß sie ihren eignen Liebling vergiften muß, und daß sie endlich von
ihm verflucht und getödtet wird.

Wenn aber in der sittlichen Anlage die Lucretia kein Fortschritt gegen Tribon-
let ist, so muß ich doch die Ausführung bedeutend vorziehn, Einmal ist dies
Stück in Prosa geschrieben, und das Geplauder dieser verliebten Hyäne erhält
dadurch in der That eine gewisse Originalität. Später hat sich Victor Hugo
darin uoch vervollkommnet; seine Königin Marie und seine Courtisane Tishe sind
zwar noch viel gemeiner, aber auch viel origineller als Lucretia. Sodann ist die
theatralische Anordnung mit großem Geschick ausgeführt, und zu der Donizettischen
Musik nimmt sich die Handlung wunderlich genug aus.

Aber mit der moralischen Wirkung ist es nichts. Die Moral hinkt nach,
eigentlich ist das krankhafte Gelüst nach pikanten Greueln, die durch die Naivität,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/294>, abgerufen am 24.07.2024.