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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Erfurt und die Bauten zum Reichstag.



Wenn der Chronist Johann Heinrich von Falkenstein, Hochfürstlich Branden-
burgisch-Anspachischer Hofrath, und der königl. preußischen Societät der Wissen¬
schaften Mitglied in seiner, Anno 1739 erschienenen Historie, von Erffurth
recht berichtet, so war es gerade im Jahr 850, "als König Ludovicus
Germaniens", einen Reichstag nach Erfurt verschrieb, und kam selbst dahin, auf
welchem er der in diesem Lande im Schwunge gehenden Ungerechtigkeit bei obrig¬
keitlichen Personen abhilfliche Maaße zu geben suchte. "Tausend Jahre nach je¬
nem ersten Reichstage soll das alte Erfurt ein deutsches Parlament in seinen
Mauern sehen, welches, soviel an ihm, der Zerrissenheit und Verfassungslosigkeit
des Vaterlandes "abhilfliche Maaße zu geben," und den neuen Bundesstaat zu
gründen bestimmt ist. In unsrer Augustinerkirche sollen sich im kommenden Früh¬
ling die deutschen Geschicke entscheiden. Vielleicht ist es daher Ihren Lesern nicht
unwillkommen, wenn ich sie einlade, schon jetzt, während jene Kirche noch im Be¬
griff ist, das weltliche Gewand anzulegen, mir dorthin zu folgen.

Der Weg führt durch ein Labyrinth von Gassen, von denen die letzte und
engste sich unter dem Namen Hose, als zum siebenten Bezirk gehörig, ankündigt,
zunächst vor das Martinsstist, welches ein Theil des ehemaligen Augustinerklo¬
sters ist, und von seinem Gründer und Vorsteher, Neinthaler, zu einer Anstalt für
die Rettung hilfloser und verwahrloster Kinder bestimmt wurde. Diese ehema¬
ligen Klostergebäude, in denen außer dem Martinsstifte noch das evangelische
Waisenhaus befindlich, sind von einem Kreuzgange umgeben, der an die südliche
Seite der Augustinerkirche, des künftigen Parlamentshauses, angebaut ist. Der
Orden der Augustiner, welcher sich im Jahre 1266 mit Genehmigung des Erz-
bischofes Werner von Mainz in Erfurt niederließ und 1277 das Kloster grün¬
dete, hat später diese Kirche gebaut. *) Sie ist von bedeutender Größe, aber in
ihrer Bauart durch nichts ausgezeichnet. An der nördlichen Seite erhebt sich ein
Thurm, der erst im Jahre 1432 gebaut worden; unter ihm, an der Kircheumauer
gewahrt man die Rinnen einer alten Kanzel und Treppe, von welcher früher dem
Volke die Reliquien zur Verehrung gezeigt wurden.

An die Pforte des Augnstinerklosters klopfte am 17. Juli des Jahres 1505
ein junger Studiosus Juris der Universität Erfurt und bat um die Aufnahme in
den Orden. Es war Martin Luther. Hier hat er die gewaltigsten Kämpfe durch¬
lebt; in der Einsamkeit der kleinen Zelle, die in dem jetzigen Waisenhause noch



*) Das älteste Grabmal i" der Kirche ist vom Jahre 1316.
,,Grenzbot"n. >. 1850. Z2
Erfurt und die Bauten zum Reichstag.



Wenn der Chronist Johann Heinrich von Falkenstein, Hochfürstlich Branden-
burgisch-Anspachischer Hofrath, und der königl. preußischen Societät der Wissen¬
schaften Mitglied in seiner, Anno 1739 erschienenen Historie, von Erffurth
recht berichtet, so war es gerade im Jahr 850, „als König Ludovicus
Germaniens", einen Reichstag nach Erfurt verschrieb, und kam selbst dahin, auf
welchem er der in diesem Lande im Schwunge gehenden Ungerechtigkeit bei obrig¬
keitlichen Personen abhilfliche Maaße zu geben suchte. „Tausend Jahre nach je¬
nem ersten Reichstage soll das alte Erfurt ein deutsches Parlament in seinen
Mauern sehen, welches, soviel an ihm, der Zerrissenheit und Verfassungslosigkeit
des Vaterlandes „abhilfliche Maaße zu geben," und den neuen Bundesstaat zu
gründen bestimmt ist. In unsrer Augustinerkirche sollen sich im kommenden Früh¬
ling die deutschen Geschicke entscheiden. Vielleicht ist es daher Ihren Lesern nicht
unwillkommen, wenn ich sie einlade, schon jetzt, während jene Kirche noch im Be¬
griff ist, das weltliche Gewand anzulegen, mir dorthin zu folgen.

Der Weg führt durch ein Labyrinth von Gassen, von denen die letzte und
engste sich unter dem Namen Hose, als zum siebenten Bezirk gehörig, ankündigt,
zunächst vor das Martinsstist, welches ein Theil des ehemaligen Augustinerklo¬
sters ist, und von seinem Gründer und Vorsteher, Neinthaler, zu einer Anstalt für
die Rettung hilfloser und verwahrloster Kinder bestimmt wurde. Diese ehema¬
ligen Klostergebäude, in denen außer dem Martinsstifte noch das evangelische
Waisenhaus befindlich, sind von einem Kreuzgange umgeben, der an die südliche
Seite der Augustinerkirche, des künftigen Parlamentshauses, angebaut ist. Der
Orden der Augustiner, welcher sich im Jahre 1266 mit Genehmigung des Erz-
bischofes Werner von Mainz in Erfurt niederließ und 1277 das Kloster grün¬
dete, hat später diese Kirche gebaut. *) Sie ist von bedeutender Größe, aber in
ihrer Bauart durch nichts ausgezeichnet. An der nördlichen Seite erhebt sich ein
Thurm, der erst im Jahre 1432 gebaut worden; unter ihm, an der Kircheumauer
gewahrt man die Rinnen einer alten Kanzel und Treppe, von welcher früher dem
Volke die Reliquien zur Verehrung gezeigt wurden.

An die Pforte des Augnstinerklosters klopfte am 17. Juli des Jahres 1505
ein junger Studiosus Juris der Universität Erfurt und bat um die Aufnahme in
den Orden. Es war Martin Luther. Hier hat er die gewaltigsten Kämpfe durch¬
lebt; in der Einsamkeit der kleinen Zelle, die in dem jetzigen Waisenhause noch



*) Das älteste Grabmal i» der Kirche ist vom Jahre 1316.
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[0257] Erfurt und die Bauten zum Reichstag. Wenn der Chronist Johann Heinrich von Falkenstein, Hochfürstlich Branden- burgisch-Anspachischer Hofrath, und der königl. preußischen Societät der Wissen¬ schaften Mitglied in seiner, Anno 1739 erschienenen Historie, von Erffurth recht berichtet, so war es gerade im Jahr 850, „als König Ludovicus Germaniens", einen Reichstag nach Erfurt verschrieb, und kam selbst dahin, auf welchem er der in diesem Lande im Schwunge gehenden Ungerechtigkeit bei obrig¬ keitlichen Personen abhilfliche Maaße zu geben suchte. „Tausend Jahre nach je¬ nem ersten Reichstage soll das alte Erfurt ein deutsches Parlament in seinen Mauern sehen, welches, soviel an ihm, der Zerrissenheit und Verfassungslosigkeit des Vaterlandes „abhilfliche Maaße zu geben," und den neuen Bundesstaat zu gründen bestimmt ist. In unsrer Augustinerkirche sollen sich im kommenden Früh¬ ling die deutschen Geschicke entscheiden. Vielleicht ist es daher Ihren Lesern nicht unwillkommen, wenn ich sie einlade, schon jetzt, während jene Kirche noch im Be¬ griff ist, das weltliche Gewand anzulegen, mir dorthin zu folgen. Der Weg führt durch ein Labyrinth von Gassen, von denen die letzte und engste sich unter dem Namen Hose, als zum siebenten Bezirk gehörig, ankündigt, zunächst vor das Martinsstist, welches ein Theil des ehemaligen Augustinerklo¬ sters ist, und von seinem Gründer und Vorsteher, Neinthaler, zu einer Anstalt für die Rettung hilfloser und verwahrloster Kinder bestimmt wurde. Diese ehema¬ ligen Klostergebäude, in denen außer dem Martinsstifte noch das evangelische Waisenhaus befindlich, sind von einem Kreuzgange umgeben, der an die südliche Seite der Augustinerkirche, des künftigen Parlamentshauses, angebaut ist. Der Orden der Augustiner, welcher sich im Jahre 1266 mit Genehmigung des Erz- bischofes Werner von Mainz in Erfurt niederließ und 1277 das Kloster grün¬ dete, hat später diese Kirche gebaut. *) Sie ist von bedeutender Größe, aber in ihrer Bauart durch nichts ausgezeichnet. An der nördlichen Seite erhebt sich ein Thurm, der erst im Jahre 1432 gebaut worden; unter ihm, an der Kircheumauer gewahrt man die Rinnen einer alten Kanzel und Treppe, von welcher früher dem Volke die Reliquien zur Verehrung gezeigt wurden. An die Pforte des Augnstinerklosters klopfte am 17. Juli des Jahres 1505 ein junger Studiosus Juris der Universität Erfurt und bat um die Aufnahme in den Orden. Es war Martin Luther. Hier hat er die gewaltigsten Kämpfe durch¬ lebt; in der Einsamkeit der kleinen Zelle, die in dem jetzigen Waisenhause noch *) Das älteste Grabmal i» der Kirche ist vom Jahre 1316. ,,Grenzbot«n. >. 1850. Z2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/257>, abgerufen am 24.07.2024.