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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Berechtigung gehabt; es verschaffte zu den Zeiten des zu sich selbst kommenden
Protestantismus dem religiösen Gefühl seinen angemessensten Ausdruck; es hat
diese Berechtigung in unserer Zeit nicht mehr. Das specifische Christenthum ist
in seiner Reaction gegen die Bildung des Jahrhunderts so weit zurückgegangen,
daß ihm der Bund mit der Kunst als eine Profanation vorkommen muß. Und
auf der andern Seite ist sich die Kunst ihres weltlichen Charakters zu bestimmt
bewußt geworden, um nicht ihrerseits das zweideutige Bündniß zu meiden. Da¬
gegen liegt in der Kunstform des Oratoriums etwas, das der heutigen Oper fehlt.
In der Musik ist das Bedürfniß vorhanden, massenhafte Gegensätze mit einander
spielen zu lassen. Der Chor muß einen breiteren Raum in der Oper haben; er
muß an seinem Theil Träger der Handlung werden, und mehr noch als in der
antiken Tragödie, wo ihm nur die Reflexion über den Streit der Gegensätze über¬
lassen ist, der Stamm, um welchen sich die Bewegung rankt. In der Musik ist
die Idee der Doppelchöre, die im Drama Schiller verunglückt ist, wohl durchzu¬
führen. Der ernste Charakter des Protestantismus würde sich in den Hugnenotten
künstlerischer und auch verständlicher ausprägen, wenn zum Träger desselben nicht
eine einzelne Persönlichkeit -- Marcel --, sondern ein Chor genommen wäre,
statt daß ihm hier nur das frivole und sür sein eigentliches Wesen gar nicht be¬
zeichnende Rataplan gelassen ist. Auf dem Boden dieser großen Gegensätze fände
dann die individuelle Leidenschaft ihre angemessene Stellung. Das Anekdotenhafte,
Novellistische der Handlung, müßte dann freilich aufgegeben werden, aber sicher
zum Vortheil der Kunst. In den Chören könnte dann die einfache Grundempfin¬
dung fugirt werden, wie im Oratorium, was in der Arie, dem Duett u. s. w.
immer geziert nud unnatürlich erscheint. -- Es versteht sich ganz von selbst, daß
der possenhafte Dialog, wie er noch immer selbst in italienischen Opern von unsern
deutschen Theatern in die Gesangstücke eingemischt wird, wegfallen muß. Es ist
das eine Geschmacklosigkeit, deren Fortdauer nur dadurch zu erklären ist, daß man
noch immer in der Oper keine Kunstform, sondern eine an den losen Faden einer
liederlich ausgeführten Handlung angereihte Sammlung von Concertstücken sieht.




Kleine Conespondenz und Notizen.




Die Königsbotschaft in der zweiten Kammer.

"Bitte, begleiten Sie mich in die zweite Kammer, ich bin heute Morgen dort ge¬
wesen, w>o es ziemlich taiigmeilig herging, nun möchte ich das Ende der Debatten
hören; vielleicht schlägt man die königliche Botschaft doch noch aus!" Die also sprach.


Berechtigung gehabt; es verschaffte zu den Zeiten des zu sich selbst kommenden
Protestantismus dem religiösen Gefühl seinen angemessensten Ausdruck; es hat
diese Berechtigung in unserer Zeit nicht mehr. Das specifische Christenthum ist
in seiner Reaction gegen die Bildung des Jahrhunderts so weit zurückgegangen,
daß ihm der Bund mit der Kunst als eine Profanation vorkommen muß. Und
auf der andern Seite ist sich die Kunst ihres weltlichen Charakters zu bestimmt
bewußt geworden, um nicht ihrerseits das zweideutige Bündniß zu meiden. Da¬
gegen liegt in der Kunstform des Oratoriums etwas, das der heutigen Oper fehlt.
In der Musik ist das Bedürfniß vorhanden, massenhafte Gegensätze mit einander
spielen zu lassen. Der Chor muß einen breiteren Raum in der Oper haben; er
muß an seinem Theil Träger der Handlung werden, und mehr noch als in der
antiken Tragödie, wo ihm nur die Reflexion über den Streit der Gegensätze über¬
lassen ist, der Stamm, um welchen sich die Bewegung rankt. In der Musik ist
die Idee der Doppelchöre, die im Drama Schiller verunglückt ist, wohl durchzu¬
führen. Der ernste Charakter des Protestantismus würde sich in den Hugnenotten
künstlerischer und auch verständlicher ausprägen, wenn zum Träger desselben nicht
eine einzelne Persönlichkeit — Marcel —, sondern ein Chor genommen wäre,
statt daß ihm hier nur das frivole und sür sein eigentliches Wesen gar nicht be¬
zeichnende Rataplan gelassen ist. Auf dem Boden dieser großen Gegensätze fände
dann die individuelle Leidenschaft ihre angemessene Stellung. Das Anekdotenhafte,
Novellistische der Handlung, müßte dann freilich aufgegeben werden, aber sicher
zum Vortheil der Kunst. In den Chören könnte dann die einfache Grundempfin¬
dung fugirt werden, wie im Oratorium, was in der Arie, dem Duett u. s. w.
immer geziert nud unnatürlich erscheint. — Es versteht sich ganz von selbst, daß
der possenhafte Dialog, wie er noch immer selbst in italienischen Opern von unsern
deutschen Theatern in die Gesangstücke eingemischt wird, wegfallen muß. Es ist
das eine Geschmacklosigkeit, deren Fortdauer nur dadurch zu erklären ist, daß man
noch immer in der Oper keine Kunstform, sondern eine an den losen Faden einer
liederlich ausgeführten Handlung angereihte Sammlung von Concertstücken sieht.




Kleine Conespondenz und Notizen.




Die Königsbotschaft in der zweiten Kammer.

„Bitte, begleiten Sie mich in die zweite Kammer, ich bin heute Morgen dort ge¬
wesen, w>o es ziemlich taiigmeilig herging, nun möchte ich das Ende der Debatten
hören; vielleicht schlägt man die königliche Botschaft doch noch aus!" Die also sprach.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/242>, abgerufen am 24.07.2024.