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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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um Feststaat, nämlich einer neuen braunen Sukmanne und der blonden Schaf-
pelzmütze schmücken wolle. Der Ort war das Musterbild eines polnischen Dörf¬
chens. Er bestand aus zwei schnurgeraden Reihen von Bauergütern und bildet
eine einzige Straße, so breit, daß in ihr bequem zehn Schafheerden zugleich wei¬
den konnten. Allenthalben sah man in dem breiten Wege kleine Viehheerden um¬
herschleudern, hier eine Kuh, ein Kalb und einige Schafe, dort K --8 Schafe
und einige Schweinchen; weiter unten an die sechs Zinskapaunen, verhältnißmä¬
ßige Gänse und ein kleines dürres Pferd; wieder an einem andern Ort eine
Familie von Ferkeln, Ochsen und Enten. Jede dieser kleinen bunten communisti-
schen Gesellschaften zeigt eine betrübende Unkenntniß aller Cvmmunalordnnng, denn
entweder wühlten sie die. Straße ellentief auf, oder sie versperrten den Weg, oder
sie brunsten sich unverdrossen, den Weg in einen Düngerhaufen zu verwandeln,
und jede Gesellschaft war von einem Kinde bewacht, dessen ganze Kleidung in
einem groben kurzen Hemdchen und einer hohen Pelzmütze oder -- war es ein
Mädchen -- einem Kopfluche bestand. Nur ein kleiner Knabe machte -- wahr¬
scheinlich in Ermangelung eines Hemdchens -- nothgedrungen eine Ausnahme, in¬
dem er in dem braunen Kittel eines Erwachsenen daherzog, der für ihn eine
Schleppenkleid, für die Straße eine Art Kehrbesen war.

Diese Kinder in ihrer Tracht, welche in der Regel gerade da aufhört, wo
die zartesten Rücksichten anfangen, bringen einen Fremden stets zu dem Glauben,
daß hier entweder Liederlichkeit oder Armuth ihren Wohnsitz habe. Es ist aber
nicht Armseligkeit, es ist nur polnische Sitte. In der Stadt Bialobrzegi in Nie¬
derpolen sah ich einst die Kinder des Herrn Bürgermeisters, eines wohlhabenden
und honnetten Mannes, in demselben Costum der kurzen Hemdchen, die beiden
Pferde ihres Herrn Vaters auf dem berasten Marktplatze weiden. Selbst die
Edelleute der höheren Klassen widmen der körperlichen Pflege ihrer Kinder nur
geringe Aufmerksamkeit. Der sechs bis achtjährige Junker treibt sich oft ungewa¬
schen und unbekleidet den ganzen Tag in den Ställen und im Felde umher und
weder Papa noch Mama fragen, wo der junge Herr sei, ob er seine Lection ge¬
lernt habe und in welchem Costüm er das Leben genieße. Nur in einem Punkt
widmet der Pole seinem Kind die größte Aufmerksamkeit, in Entwickelung des
Nationalgefühls. Bei jeder Gelegenheit legt er dem Kinde Ereignisse aus der
polnischen Geschichte in die junge Seele. Steht der kleine Junker auf dem Hofe
und steht zu, wie zwei Haushähne mit einander kämpfen, so wird sicherlich der
Vater zu ihm sagen: "Sich' zu, "junger Herr", diese Hühner sind wie zwei Hel¬
den, Du kannst hier ein Bild sehen von dem gewaltigen Zweikampf des alten
edlen Neichstronfeldherrn Czarnecki; und wenn Du die.kämpfenden Hähne nach
Miene und Stellung beobachtest, welchen würdest Du für den siegreichen, gewal¬
tigen Czarnecki halten?" -- Reitet der Vater mit dem siebenjährigen Sohne, der
dabei vielleicht nichts, als Hemd und Höschen auf dem Leibe hat, aus, und sieht


um Feststaat, nämlich einer neuen braunen Sukmanne und der blonden Schaf-
pelzmütze schmücken wolle. Der Ort war das Musterbild eines polnischen Dörf¬
chens. Er bestand aus zwei schnurgeraden Reihen von Bauergütern und bildet
eine einzige Straße, so breit, daß in ihr bequem zehn Schafheerden zugleich wei¬
den konnten. Allenthalben sah man in dem breiten Wege kleine Viehheerden um¬
herschleudern, hier eine Kuh, ein Kalb und einige Schafe, dort K —8 Schafe
und einige Schweinchen; weiter unten an die sechs Zinskapaunen, verhältnißmä¬
ßige Gänse und ein kleines dürres Pferd; wieder an einem andern Ort eine
Familie von Ferkeln, Ochsen und Enten. Jede dieser kleinen bunten communisti-
schen Gesellschaften zeigt eine betrübende Unkenntniß aller Cvmmunalordnnng, denn
entweder wühlten sie die. Straße ellentief auf, oder sie versperrten den Weg, oder
sie brunsten sich unverdrossen, den Weg in einen Düngerhaufen zu verwandeln,
und jede Gesellschaft war von einem Kinde bewacht, dessen ganze Kleidung in
einem groben kurzen Hemdchen und einer hohen Pelzmütze oder — war es ein
Mädchen — einem Kopfluche bestand. Nur ein kleiner Knabe machte — wahr¬
scheinlich in Ermangelung eines Hemdchens — nothgedrungen eine Ausnahme, in¬
dem er in dem braunen Kittel eines Erwachsenen daherzog, der für ihn eine
Schleppenkleid, für die Straße eine Art Kehrbesen war.

Diese Kinder in ihrer Tracht, welche in der Regel gerade da aufhört, wo
die zartesten Rücksichten anfangen, bringen einen Fremden stets zu dem Glauben,
daß hier entweder Liederlichkeit oder Armuth ihren Wohnsitz habe. Es ist aber
nicht Armseligkeit, es ist nur polnische Sitte. In der Stadt Bialobrzegi in Nie¬
derpolen sah ich einst die Kinder des Herrn Bürgermeisters, eines wohlhabenden
und honnetten Mannes, in demselben Costum der kurzen Hemdchen, die beiden
Pferde ihres Herrn Vaters auf dem berasten Marktplatze weiden. Selbst die
Edelleute der höheren Klassen widmen der körperlichen Pflege ihrer Kinder nur
geringe Aufmerksamkeit. Der sechs bis achtjährige Junker treibt sich oft ungewa¬
schen und unbekleidet den ganzen Tag in den Ställen und im Felde umher und
weder Papa noch Mama fragen, wo der junge Herr sei, ob er seine Lection ge¬
lernt habe und in welchem Costüm er das Leben genieße. Nur in einem Punkt
widmet der Pole seinem Kind die größte Aufmerksamkeit, in Entwickelung des
Nationalgefühls. Bei jeder Gelegenheit legt er dem Kinde Ereignisse aus der
polnischen Geschichte in die junge Seele. Steht der kleine Junker auf dem Hofe
und steht zu, wie zwei Haushähne mit einander kämpfen, so wird sicherlich der
Vater zu ihm sagen: „Sich' zu, „junger Herr", diese Hühner sind wie zwei Hel¬
den, Du kannst hier ein Bild sehen von dem gewaltigen Zweikampf des alten
edlen Neichstronfeldherrn Czarnecki; und wenn Du die.kämpfenden Hähne nach
Miene und Stellung beobachtest, welchen würdest Du für den siegreichen, gewal¬
tigen Czarnecki halten?" — Reitet der Vater mit dem siebenjährigen Sohne, der
dabei vielleicht nichts, als Hemd und Höschen auf dem Leibe hat, aus, und sieht


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[0187] um Feststaat, nämlich einer neuen braunen Sukmanne und der blonden Schaf- pelzmütze schmücken wolle. Der Ort war das Musterbild eines polnischen Dörf¬ chens. Er bestand aus zwei schnurgeraden Reihen von Bauergütern und bildet eine einzige Straße, so breit, daß in ihr bequem zehn Schafheerden zugleich wei¬ den konnten. Allenthalben sah man in dem breiten Wege kleine Viehheerden um¬ herschleudern, hier eine Kuh, ein Kalb und einige Schafe, dort K —8 Schafe und einige Schweinchen; weiter unten an die sechs Zinskapaunen, verhältnißmä¬ ßige Gänse und ein kleines dürres Pferd; wieder an einem andern Ort eine Familie von Ferkeln, Ochsen und Enten. Jede dieser kleinen bunten communisti- schen Gesellschaften zeigt eine betrübende Unkenntniß aller Cvmmunalordnnng, denn entweder wühlten sie die. Straße ellentief auf, oder sie versperrten den Weg, oder sie brunsten sich unverdrossen, den Weg in einen Düngerhaufen zu verwandeln, und jede Gesellschaft war von einem Kinde bewacht, dessen ganze Kleidung in einem groben kurzen Hemdchen und einer hohen Pelzmütze oder — war es ein Mädchen — einem Kopfluche bestand. Nur ein kleiner Knabe machte — wahr¬ scheinlich in Ermangelung eines Hemdchens — nothgedrungen eine Ausnahme, in¬ dem er in dem braunen Kittel eines Erwachsenen daherzog, der für ihn eine Schleppenkleid, für die Straße eine Art Kehrbesen war. Diese Kinder in ihrer Tracht, welche in der Regel gerade da aufhört, wo die zartesten Rücksichten anfangen, bringen einen Fremden stets zu dem Glauben, daß hier entweder Liederlichkeit oder Armuth ihren Wohnsitz habe. Es ist aber nicht Armseligkeit, es ist nur polnische Sitte. In der Stadt Bialobrzegi in Nie¬ derpolen sah ich einst die Kinder des Herrn Bürgermeisters, eines wohlhabenden und honnetten Mannes, in demselben Costum der kurzen Hemdchen, die beiden Pferde ihres Herrn Vaters auf dem berasten Marktplatze weiden. Selbst die Edelleute der höheren Klassen widmen der körperlichen Pflege ihrer Kinder nur geringe Aufmerksamkeit. Der sechs bis achtjährige Junker treibt sich oft ungewa¬ schen und unbekleidet den ganzen Tag in den Ställen und im Felde umher und weder Papa noch Mama fragen, wo der junge Herr sei, ob er seine Lection ge¬ lernt habe und in welchem Costüm er das Leben genieße. Nur in einem Punkt widmet der Pole seinem Kind die größte Aufmerksamkeit, in Entwickelung des Nationalgefühls. Bei jeder Gelegenheit legt er dem Kinde Ereignisse aus der polnischen Geschichte in die junge Seele. Steht der kleine Junker auf dem Hofe und steht zu, wie zwei Haushähne mit einander kämpfen, so wird sicherlich der Vater zu ihm sagen: „Sich' zu, „junger Herr", diese Hühner sind wie zwei Hel¬ den, Du kannst hier ein Bild sehen von dem gewaltigen Zweikampf des alten edlen Neichstronfeldherrn Czarnecki; und wenn Du die.kämpfenden Hähne nach Miene und Stellung beobachtest, welchen würdest Du für den siegreichen, gewal¬ tigen Czarnecki halten?" — Reitet der Vater mit dem siebenjährigen Sohne, der dabei vielleicht nichts, als Hemd und Höschen auf dem Leibe hat, aus, und sieht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/187>, abgerufen am 24.07.2024.