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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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hängigkeit verzichtend, an Görgey selbst die Macht abtreten, damit wenigstens
die Freiheit der Nation gerettet werde. Allein es war in dem Buche des Schick¬
sals geschrieben, daß Ungarn für eine Zeit oder sür immer zu sein aufhöre, und
die Szegediner Opposition schoß ihre Pfeile gegen einen -- Leichnam.

Man hat diese Opposition überhaupt vielfach falsch beurtheilt; besonders ihr
Verhältniß zur Unabhängigkeitserklärung Ungariis. Einige Mitglieder derselben
wurden für entschiedene Gegner dieses Alles gehalten, ja man leitete die ganze
Opposition von dem Widerstand einer Fraction gegen die Ablösung von Oest¬
reich her. --

Dieser große und in seinen Folgen noch jetzt schwer zu beurtheilende Schritt
der ungarischen Nevolutionshäupter hat im Auslande und besonders in Deutsch¬
land eine vielfache, aber meist schiefe Beurtheilung erfahren. Weil er sich später
als unwirksam herausstellte, glaubte man ihn zugleich unpolitisch nennen
zu müssen, und ist geneigt zu behaupten, daß er nur in Kossuth und seinem An¬
hange, keineswegs aber in dem ungarischen Volte Grund und Boden hatte, da
in dein ungarischen Volke kein Funke vou Republikanismus sei u. s. w.

Das Volk in Ungarn hegt gegen das Hergebrachte, von den Vätern Ueber¬
kommene eine außerordentliche Pietät, ich möchte sagen, eins religiöse Verehrung.
Seine Geschichte kennt es nur aus Sagen und Liedern der Vorzeit, und da in
diesen seine Fürsten, besonders ans dem Arpadischen Hause nur Helden- und
Wvhlthäterrollen spielen, so gewöhnte es sich, die Idee alles Großen und Edlen
an die Erinnerung dieser poetischen Gebilde zu knüpfen und alle seine Leiden,
selbst die aus dem Königthume überhaupt entsprangen, nur dem auswärtigen
Herrscherhause zur Last zu legen. Daraus bildeten sich der ungewöhnliche Haß
gegen Oestreich und die unaussprechliche Sehnsucht nach einem eigenen oder doch
im Lande wohnenden König, mit dem man alle Tugenden ein- und alle Uebel aus¬
wandern läßt. Auch hier zeigte es sich, daß das Volt nie ganz Unrecht habe;
denn wirklich schreibt sich die schmähliche Verwahrlosung der edlen Nation in Bil¬
dung der Industrie, ja selbst in der Agricultur nnr von dem Umstände her, daß
Ungarn immer für Oestreich eine Melkens abgeben mußte: und schon die vormärz-


organisircndes Rescrvccorps war <ni Gewehre gar nicht zu denken, und der Mangel a" Pulver
und Munition konnte einmal gar nicht mehr maßgebend sein; unwahr ist die Behauptung, daß
Kossuth in'dieser Zeit gar eine solche Reise gemacht hat, da er sich vonSzegcdin nur ent¬
fernte, als er nach Arad, und von Arad, als er nach Lngos ging. Wohl war das "herzhafte
ungarische Volk" bereit, zu Hunderttausenden einzustehen; auf unsrer traurigen Wanderung
wurden wir überall von den Massen des Volkes bestürmt und jeder frug: warum die Regie¬
rung sie nicht gegen den Feind des Vaterlandes anführen lasse'! Aber warum dies nicht ge¬
schah, konnten wir ihnen nicht sagen; auch die Noten spendende Brochüre schweigt über diese
Frage, und die ernsthafte Lösung solcher Räthsel sind wir allerdings berechtigt von einer Kos-
suth'schen Arbeit zu fordern!

hängigkeit verzichtend, an Görgey selbst die Macht abtreten, damit wenigstens
die Freiheit der Nation gerettet werde. Allein es war in dem Buche des Schick¬
sals geschrieben, daß Ungarn für eine Zeit oder sür immer zu sein aufhöre, und
die Szegediner Opposition schoß ihre Pfeile gegen einen — Leichnam.

Man hat diese Opposition überhaupt vielfach falsch beurtheilt; besonders ihr
Verhältniß zur Unabhängigkeitserklärung Ungariis. Einige Mitglieder derselben
wurden für entschiedene Gegner dieses Alles gehalten, ja man leitete die ganze
Opposition von dem Widerstand einer Fraction gegen die Ablösung von Oest¬
reich her. —

Dieser große und in seinen Folgen noch jetzt schwer zu beurtheilende Schritt
der ungarischen Nevolutionshäupter hat im Auslande und besonders in Deutsch¬
land eine vielfache, aber meist schiefe Beurtheilung erfahren. Weil er sich später
als unwirksam herausstellte, glaubte man ihn zugleich unpolitisch nennen
zu müssen, und ist geneigt zu behaupten, daß er nur in Kossuth und seinem An¬
hange, keineswegs aber in dem ungarischen Volte Grund und Boden hatte, da
in dein ungarischen Volke kein Funke vou Republikanismus sei u. s. w.

Das Volk in Ungarn hegt gegen das Hergebrachte, von den Vätern Ueber¬
kommene eine außerordentliche Pietät, ich möchte sagen, eins religiöse Verehrung.
Seine Geschichte kennt es nur aus Sagen und Liedern der Vorzeit, und da in
diesen seine Fürsten, besonders ans dem Arpadischen Hause nur Helden- und
Wvhlthäterrollen spielen, so gewöhnte es sich, die Idee alles Großen und Edlen
an die Erinnerung dieser poetischen Gebilde zu knüpfen und alle seine Leiden,
selbst die aus dem Königthume überhaupt entsprangen, nur dem auswärtigen
Herrscherhause zur Last zu legen. Daraus bildeten sich der ungewöhnliche Haß
gegen Oestreich und die unaussprechliche Sehnsucht nach einem eigenen oder doch
im Lande wohnenden König, mit dem man alle Tugenden ein- und alle Uebel aus¬
wandern läßt. Auch hier zeigte es sich, daß das Volt nie ganz Unrecht habe;
denn wirklich schreibt sich die schmähliche Verwahrlosung der edlen Nation in Bil¬
dung der Industrie, ja selbst in der Agricultur nnr von dem Umstände her, daß
Ungarn immer für Oestreich eine Melkens abgeben mußte: und schon die vormärz-


organisircndes Rescrvccorps war <ni Gewehre gar nicht zu denken, und der Mangel a» Pulver
und Munition konnte einmal gar nicht mehr maßgebend sein; unwahr ist die Behauptung, daß
Kossuth in'dieser Zeit gar eine solche Reise gemacht hat, da er sich vonSzegcdin nur ent¬
fernte, als er nach Arad, und von Arad, als er nach Lngos ging. Wohl war das „herzhafte
ungarische Volk" bereit, zu Hunderttausenden einzustehen; auf unsrer traurigen Wanderung
wurden wir überall von den Massen des Volkes bestürmt und jeder frug: warum die Regie¬
rung sie nicht gegen den Feind des Vaterlandes anführen lasse'! Aber warum dies nicht ge¬
schah, konnten wir ihnen nicht sagen; auch die Noten spendende Brochüre schweigt über diese
Frage, und die ernsthafte Lösung solcher Räthsel sind wir allerdings berechtigt von einer Kos-
suth'schen Arbeit zu fordern!
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/152>, abgerufen am 24.07.2024.