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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Worten gesagt hat; er polemistrt gegen die Kritiker, welche in der Schlegel'schen
Ironie ein frivoles "Ueber-Alles-hinaus-sein" finden: "Diese Auffassung ist ganz
gewiß falsch. Vergißt man denn ganz und gar, daß die Romantiker stets von
Anfang an, nicht blos in der katholischen Periode, die rabbiatesten Fanatiker
gewesen?" -- und setzt dann im Einzelnen ganz richtig auseinander, wie die
Häupter der Schule, namentlich die Schlegel und Tieck, zu keiner Zeit, auch nicht
einmal in der katholischen Periode, rabbiate Fanatiker gewesen sind, sondern immer
über ?lites hinaus u. s. w. Die Billigkeit collidirt beständig mit der Kenntniß.

Ich würde die Schrift nicht angeführt haben, wenn sie mir nicht Gelegenheit
böte, mich über das Verhältniß unserer Zeit zu jenem romantischen Spuk be¬
stimmter auszusprechen.

In den älteren Compendien der deutschen Literaturgeschichte wird entweder mit
Goethe und Schiller geradezu geschlossen, oder es werden noch im Anhang, etwa unter
dem Titel "Gelesene Schriften" die sämmtliche" Literaten, die neben jenen beiden
Heroen seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts den Büchermarkt bereichert haben,
in bunter Reihe abgefertigt. Man sprach zwar von einer romantischen Schule, zu
welcher man ziemlich willkürlich fünf Schriftsteller rechnete, wie man es später
auch mit dem jungen Deutschland gethan hat, aber sie unter einem gemeinsamen
Begriff zusammenzufassen, fiel Niemandem ein, weil sie zunächst nur den Eindruck
einer grenzenlosen Confusion machten. Den deutschen Jahrbüchern war es vorbe¬
halten, diesen leitenden Begriff zu finden und den Ausdruck desselben als die be¬
wußte Reaction des umgekehrten Idealismus gegen den modernen Geist zu bezeich¬
nen. Seitdem ist man daran gegangen, die romantische Schule als ein Ganzes
zum Gegenstand der Geschichtschreibung zu machen.

Allein weder in der Wissenschaft, noch in der Kunst, noch im Leben hat es
die Schule zu einer classischen Form, zu einem Abschluß gebracht; überall lehnt
sie sich an mächtigere Richtungen an, die sich zwar in ihr wie in einem Knoten¬
punkt zusammenfädeln, die aber an sich viel werthvoller, bedeutender und einflu߬
reicher sind, als die ganze Schule zusammengenommen. Wie will man ihre phi¬
losophischen Paradoxen verstehen ohne Fichte und Schelling? ihre religiösen Vi¬
sionen ohne Schleiermacher? ihre politisirenden Phrasen ohne die historisch-juri¬
dische Schule? ihren poetisirenden Dilettantismus ohne Göthe? ihre ästhetischen
Fragmente ohne Schiller? Wie will man ferner ihre Vorliebe für gewisse Dichter,
wie Dante, Calderon, Shakespeare begreifen, ohne das Gemeinsame herauszufin-
den, das diese großen Dichter, die der Welt ans andern Gründen imponi-
ren, mit diesen doctriuären Grillen in Verhältniß gesetzt hat? wie ihre Vorliebe
für den Katholicismus und das Mittelalter, wenn man nicht auch in diesen histo¬
rischen Erscheinungen den rothen Faden schimmern sieht, an den die Schule die
Eingebungen ihrer Phantasie zu reihen pflegt? Ist man aber erst so weit, so
geht das Interesse weit mehr darauf hin, den innern Zusammenhang zwischen


Worten gesagt hat; er polemistrt gegen die Kritiker, welche in der Schlegel'schen
Ironie ein frivoles „Ueber-Alles-hinaus-sein" finden: „Diese Auffassung ist ganz
gewiß falsch. Vergißt man denn ganz und gar, daß die Romantiker stets von
Anfang an, nicht blos in der katholischen Periode, die rabbiatesten Fanatiker
gewesen?" — und setzt dann im Einzelnen ganz richtig auseinander, wie die
Häupter der Schule, namentlich die Schlegel und Tieck, zu keiner Zeit, auch nicht
einmal in der katholischen Periode, rabbiate Fanatiker gewesen sind, sondern immer
über ?lites hinaus u. s. w. Die Billigkeit collidirt beständig mit der Kenntniß.

Ich würde die Schrift nicht angeführt haben, wenn sie mir nicht Gelegenheit
böte, mich über das Verhältniß unserer Zeit zu jenem romantischen Spuk be¬
stimmter auszusprechen.

In den älteren Compendien der deutschen Literaturgeschichte wird entweder mit
Goethe und Schiller geradezu geschlossen, oder es werden noch im Anhang, etwa unter
dem Titel „Gelesene Schriften" die sämmtliche» Literaten, die neben jenen beiden
Heroen seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts den Büchermarkt bereichert haben,
in bunter Reihe abgefertigt. Man sprach zwar von einer romantischen Schule, zu
welcher man ziemlich willkürlich fünf Schriftsteller rechnete, wie man es später
auch mit dem jungen Deutschland gethan hat, aber sie unter einem gemeinsamen
Begriff zusammenzufassen, fiel Niemandem ein, weil sie zunächst nur den Eindruck
einer grenzenlosen Confusion machten. Den deutschen Jahrbüchern war es vorbe¬
halten, diesen leitenden Begriff zu finden und den Ausdruck desselben als die be¬
wußte Reaction des umgekehrten Idealismus gegen den modernen Geist zu bezeich¬
nen. Seitdem ist man daran gegangen, die romantische Schule als ein Ganzes
zum Gegenstand der Geschichtschreibung zu machen.

Allein weder in der Wissenschaft, noch in der Kunst, noch im Leben hat es
die Schule zu einer classischen Form, zu einem Abschluß gebracht; überall lehnt
sie sich an mächtigere Richtungen an, die sich zwar in ihr wie in einem Knoten¬
punkt zusammenfädeln, die aber an sich viel werthvoller, bedeutender und einflu߬
reicher sind, als die ganze Schule zusammengenommen. Wie will man ihre phi¬
losophischen Paradoxen verstehen ohne Fichte und Schelling? ihre religiösen Vi¬
sionen ohne Schleiermacher? ihre politisirenden Phrasen ohne die historisch-juri¬
dische Schule? ihren poetisirenden Dilettantismus ohne Göthe? ihre ästhetischen
Fragmente ohne Schiller? Wie will man ferner ihre Vorliebe für gewisse Dichter,
wie Dante, Calderon, Shakespeare begreifen, ohne das Gemeinsame herauszufin-
den, das diese großen Dichter, die der Welt ans andern Gründen imponi-
ren, mit diesen doctriuären Grillen in Verhältniß gesetzt hat? wie ihre Vorliebe
für den Katholicismus und das Mittelalter, wenn man nicht auch in diesen histo¬
rischen Erscheinungen den rothen Faden schimmern sieht, an den die Schule die
Eingebungen ihrer Phantasie zu reihen pflegt? Ist man aber erst so weit, so
geht das Interesse weit mehr darauf hin, den innern Zusammenhang zwischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/136>, abgerufen am 24.07.2024.